Leichtathletik:Stolz auf einen Schattenplatz

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Zu spät getraut: In Dortmund holt Clemens Bleistein (li.) den Favoriten Richard Ringer nicht rechtzeitig ein. In Birmingham gibt es kein Taktieren. (Foto: Chai v.d. Laage/imago)

Clemens Bleistein hofft bei der WM das 3000-Meter-Finale zu erreichen. Favorisiert sind andere, trotzdem will er sich nicht verrückt machen lassen.

Von Andreas Liebmann, München

Richard Ringer war in einem flotten Tempo unterwegs, schon 2800 Meter lang. Seine Schritte wirkten immer noch federnd. Plötzlich, eine Runde vor Schluss, zog er das Tempo an, als hätte jemand am anderen Ende der Dortmunder Halle einen Schlussverkauf eröffnet. Die Lücke zwischen dem Friedrichshafener und dem Rest des Feldes wuchs rasant, einzig Ringers Schatten war noch bei ihm; jene schwarze Silhouette, die ihn Runde um Runde begleitet hatte. Bis sich 50 Meter vor dem Ziel der Schatten federnden Schrittes aufmachte, an Richard Ringer, dem Favoriten, vorbeizuziehen. "Ich dachte schon, ich hätte ihn", sprach der Schatten später. "Vielleicht, wenn das Rennen 50 Meter länger gegangen wäre. Aber es sind eben 3000 Meter - und keine 3050." Clemens Bleistein, im Schwarz der LG Stadtwerke München gekleidet, fehlten auf der Ziellinie etwa 50 Zentimeter zu Ringer, der damit deutscher Hallenmeister wurde. Bleistein ärgerte sich, dass er seine Schattenrolle etwas zu spät aufgegeben hatte.

Es ging nur um den Titel vor zwei Wochen in Dortmund, um nichts sonst, auch nicht um eine gute Zeit. Ringer kam nach 8:10,14 Minuten ins Ziel, Bleistein neun Hundertstelsekunden danach. Für eine Nominierung zu den Hallen-Weltmeisterschaften in Birmingham hätten beide Zeiten nicht gereicht. Doch Bleistein hatte die Norm bereits in der Tasche, er hatte sie mitgebracht von einem internationalen Meeting in Metz, wo er eine Woche zuvor in 7:51,51 Minuten Zweiter geworden war hinter einem Mann aus Burundi. Eine neue persönliche Bestleistung für den 27-Jährigen, der zuletzt während eines praktischen Jahrs als angehender Arzt ein Jahr lang ausgesetzt hatte. An diesem Freitag wird er nun also bei der WM laufen, nach der Hallen-Europameisterschaft 2015 ist es erst sein zweiter Einsatz bei einem internationalen Großereignis, in Schwarz-Rot-Gold statt in den schwarzen Vereinsfarben.

Zehn Männer und zwölf Frauen vertreten den Deutschen Leichtathletik-Verband seit diesem Donnerstag in Birmingham. Neben Richard Ringer wird es auch für Bleistein zunächst einmal darum gehen, an diesem Freitagmittag die Vorrunde zu überstehen, um ins Finale am Sonntagnachmittag zu gelangen. Vor drei Jahren bei der Hallen-EM in Prag war ihm das nicht gelungen. Bleistein ist international weitgehend unerfahren, im Gegensatz zu Ringer, dem mehrmaligen deutschen Meister, Olympia-Starter und Dritten der Europameisterschaften drinnen wie draußen. Das größere Problem ist: Zwar würde es auch in Birmingham im Finallauf nicht mehr um die Zeit gehen, sondern einzig um die Platzierung, doch die Zeiten sind trotzdem aufschlussreich. Der Jahresbeste Selemon Barega aus Äthiopien, gerade mal 18 Jahre jung, hat vor knapp drei Wochen im französischen Liévin eine 3000-Meter-Zeit von 7:36,64 Minuten abgeliefert. Damit würde er vermutlich etwas mehr als nur 50 Zentimeter Vorsprung vor Bleistein haben. Seine Landsleute Hagos Gebrhiwet und Titelverteidiger Yomif Kejelcha weisen ähnliche Bestzeiten auf. Sie sind mehr als 30 Sekunden schneller als Bleisteins Zeit aus Dortmund. Eine halbe Ewigkeit. Zum Vergleich: Konstanze Klosterhalfen, die beste deutsche Frau über 3000 Meter, war in Dortmund nur 26 Sekunden langsamer als Ringer und Bleistein. "Natürlich sind diese Zeiten noch mal eine andere Liga", weiß Bleistein, "aber sie sind in Rennen mit Tempomachern gelaufen worden. Die gibt es bei einer WM nicht." Im Vergleich mit seiner Bestzeit aus Metz fehlen 15 Sekunden, und überhaupt, sagt Bleistein, dürfe man sich angesichts dieser Zahlen auch nicht verrückt machen: "Dem bringt es in Birmingham ja auch nichts, wenn er drei Wochen vorher mal schneller war als ich."

Clemens Bleistein hatte sich bei seiner Rückkehr ein großes Ziel gesetzt für diese Saison, er wollte im Sommer bei der Europameisterschaft in Berlin antreten. Oder besser: Er will, es ist nach wie vor sein größtes Ziel. Doch die Ehre, die das für ihn bedeutet, gibt er sich jetzt schon: "Es war mein Traum, noch einmal für Deutschland zu laufen, das wollte ich unbedingt", sagt er, "das ist es, wofür man trainiert. Es ist das Größte für mich, mein Land repräsentieren zu dürfen. Dass ich das jetzt im Voraus abhaken kann, ist ziemlich cool." Er ist der Grippewelle entkommen, er ist nicht verletzt und gut in Form - wer weiß schon, was in ein paar Monaten sein wird. "Ich freue mich riesig, jetzt dabei zu sein."

Clemens Bleistein ist guter Dinge. Er habe es zuletzt immer geschafft, seine Leistung auf den Punkt abzurufen. Er schaut nicht auf die Favoriten, sondern nur auf sich, auf das große Ereignis, das er sich mit viel Fleiß erarbeitet hat.

Nicht jeder nimmt die Hallensaison mit. Auch bei der LG Stadtwerke haben die üblichen Kandidaten für internationale Auftritte alles der Vorbereitung auf den EM-Sommer untergeordnet. Die 800-Meter-Läuferin Christina Hering zum Beispiel ist auf dem Weg ins Höhentrainingslager nach Flagstaff, Arizona. Der 400-Meter-Läufer Johannes Trefz hat fast komplett auf Hallenwettkämpfe verzichtet. Bleistein kann nun für sich in Anspruch nehmen, dass er es als einziger Münchner zur Hallen-Weltmeisterschaft vor dem frenetischen Publikum in Birmingham geschafft hat - und sogar als einziger Athlet aus Bayern.

Selbstverständlich zählt er nicht zu den Favoriten. "Ich kann ganz entspannt sein", sagt Bleistein, "das Finale zu erreichen, wäre ein Riesenerfolg." Würde er es verpassen, wäre er dennoch enttäuscht. Klar ist: Es kann am Freitag kein Taktieren geben. "Da werde ich mich nicht zurückhalten oder schonen. Es wird mir alles abverlangt werden. Man kann sich auch über die Zeit fürs Finale qualifizieren." Mit anderen Worten: "Der Vorlauf ist mein Finale."

Und dann? Bloß nicht verrückt machen lassen. Selbst die schnellsten Äthiopier ziehen bisweilen einen Schatten hinter sich her.

© SZ vom 02.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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