Leichtathletik:Nur noch drei

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Und nun? Vor einigen Tagen schien Tobias Giehls Olympia-Traum geplatzt zu sein. Dann war er plötzlich nominiert. Aktuell muss er warten und hoffen. (Foto: Imago)

Seit Dienstag steht der Hürdenläufer Tobias Giehl auf der Liste der deutschen Olympiastarter. Doch das täuscht: Nach Rio darf er nur, falls genügend Rivalen ausfallen

Von Andreas Liebmann, München

Irgendwo im Senegal dürfte am frühen Mittwochmorgen ein lauter Jubelschrei die Stille durchbrochen haben, zumindest sofern Amadou N'Diaye nicht schon vorher Bescheid wusste. Der 23-Jährige ist der beste 400-Meter-Hürdenläufer seines Landes, als solcher ist er vom Weltleichtathletikverband IAAF zu den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro zugelassen worden; nachträglich, als 50. Starter, obwohl er die internationale Norm nicht erfüllt hat. Um 5.51 Uhr tauchte N'Diaye erstmals in der Teilnehmerliste auf, 3.51 Uhr senegalesischer Zeit. Knapp 5000 Kilometer nördlich gab es zwar keinen Jubelschrei, in Bad Orb im Spessart dürfte Volker Beck allerdings mindestens zufrieden genickt haben. Der ehemalige Olympiasieger für die DDR ist aktueller Bundestrainer der Langhürdler, und er mag sich so etwas gedacht haben wie: "Da waren's nur noch Drei."

N'Diaye stand auf einer Liste potenzieller Nachrücker für den Hürdenlauf, die die Qualifikationsnorm für Rio knapp verpasst haben. Genau wie Tobias Giehl von der LG Stadtwerke München, der dort auf Rang vier von acht Athleten geführt wurde - seit Mittwochmorgen also auf Rang drei. Beck wird diese Liste nun mehrmals täglich überprüfen, er ist optimistisch, dass Giehl noch weiter nach vorne rücken und letztlich zu den Spielen reisen wird. Wissen kann er es freilich nicht. Wie Giehl selbst ist auch der Bundestrainer nun zum Zuschauen verdammt, spätestens bis zum nächsten Montag. Da endet die Frist.

Tobias Giehl hat am vergangenen Dienstag ein Wechselbad der Gefühle durchlebt. Zweimal hatte er in den zurückliegenden Tagen hauchdünn die Norm verpasst, trotzdem stand er am Nachmittag plötzlich auf der Liste derjenigen, die der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) nach Rio schickt. Sein Name tauchte in den Nachrichtenagenturen auf, sein Verein jubelte. Er selbst blieb skeptisch, weil er sich das nicht erklären konnte. "Das lief etwas unglücklich", sagt Beck, "als Tobi mich angerufen hat, wusste ich auch noch nichts, habe aber gleich gesagt: Füße still halten, das kann eigentlich gar nicht sein." Tatsächlich stellte sich schnell heraus, dass Giehl nur unter Vorbehalt nominiert ist, der Liste des DOSB war das jedoch nicht zu entnehmen.

Das Prozedere ist kompliziert. 2100 Plätze stehen der IAAF zu, aus den Vereinbarungen mit den nationalen Verbänden ergeben sich aber nur etwa 2020 Starter. Etwa 80 kann der Weltverband daher noch gesondert einladen, das wird er bis zum 18. Juli tun. Dabei geht es nicht zuletzt darum, Vorläufe aufzufüllen. "Ich bin grundsätzlich Optimist", sagt Beck, "es wird schon noch Ausfälle geben."

Giehl war ein wenig genervt am Dienstag, er wusste nicht recht, ob er sich freuen solle. Er war enttäuscht, als klar war, dass sein Start in Rio doch nicht so sicher ist, wie es in den ersten Meldungen plötzlich klang; dass ihm nun diese Hängepartie bevorsteht. "Als wäre die letzte Woche nicht schon aufregend genug gewesen." Andererseits war er Olympia noch nie so nahe wie jetzt, wo der DOSB klar bekannt hat, ihn zu nominieren, sobald der Weltverband eine entsprechende Einladung ausstellt. "Das ist ein gutes Signal vom DOSB und nicht selbstverständlich", betont Giehl.

Zwei Jahre lang war Giehl von Verletzungen gebremst worden, erst vor der Olympiasaison konnte er schmerzfrei trainieren. Dann waren ihm pünktlich vor Nominierungsschluss zwei neue persönliche Bestzeiten gelungen: Bei der EM in Amsterdam in der vergangenen Woche hatte er locker seinen Vorlauf gewonnen, im Halbfinale allerdings ein sehr schnelles Feld und die ungünstige Außenbahn erwischt - es reichte nicht ganz. "Es war eine gute Performance, fand Beck, "er hat alles versucht, ist in den Top Ten Europas gelandet, er hatte einfach etwas Pech." Die wenigen Qualifikationsversuche, die Giehl zuvor hatte, hätten alle unter eher widrigen Bedingungen stattgefunden, "sonst hätte er die Norm längst". Drei Tage nach dem Halbfinal-Aus in Amsterdam hatte Giehl dann bei den westdeutschen Meisterschaften noch einen weiteren, letzten Versuch unternommen, erneut gelang ihm eine Steigerung: Seine 49,48 Sekunden allerdings lagen immer noch acht Hundertstelsekunden über der Norm. Bundestrainer Beck schlug Giehl dann als einen der Nachrücker vor, er habe sowohl vom Cheftrainer als auch vom Verband Rückendeckung bekommen. Giehls Hartnäckigkeit, es drei Tage nach den emotionalen EM-Auftritten wieder zu versuchen, sollte belohnt werden.

Auch Giehl ertappt sich nun dabei, dass er alle paar Minuten ins Internet schauen will, ob sich an seiner Platzierung schon etwas geändert hat. "Es gibt Schöneres", sagt er, "aber eben auch Schlimmeres, ich bin froh, überhaupt in dieser Lage zu stecken." Noch vor einem Jahr schien eine Olympia-Chance für ihn weit weg zu sein. "Ich bin mit mir im Reinen", sagt er nun, "ich kann mir nichts vorwerfen. Ich versuche mich jetzt so vorzubereiten, als wäre ich sicher dabei." Falls es am Ende doch nicht reichen sollte, käme er mit der Enttäuschung klar. Sein Olympiatraum war ja vermeintlich bereits am vergangenen Sonntag geplatzt.

© SZ vom 14.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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