Leichtathletik:Läuft

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Etliche Beinlängen Vorsprung: Christina Hering holt vor drei Wochen in Leipzig den DM-Titel über 800 Meter. (Foto: Chai v.d. Laage/Imago)

Olympia-Vorbereitung? Verletzungsrisiko? Überlastung? 800-Meter-Meisterin Christina Hering startet trotzdem bei der Hallen-WM in Portland

Von Andreas Liebmann, München

Rio de Janeiro, natürlich. Auch unter dem Zuckerhut beabsichtigt Christina Hering in diesem Sommer mal auf ein paar Stadionründchen vorbeizuschauen. Wie schon auf den Bahamas, wo sie an ihrer ersten Staffel-WM teilnahm, wie in Tallinn, Estland, wo sie Bronze bei der U-23-EM holte, oder wie in Peking, wo sie das WM-Halbfinale der Frauen über 800 Meter erreichte. Alles erst wenige Monate her. Vor zwei Jahren noch schienen solche Erfolge weit weg zu sein für die Münchnerin. "Als Traum im Hinterkopf" habe sie Olympia vielleicht gehabt, "aber ich hätte nie gedacht, dass ich jetzt schon so weit bin". 21 ist sie erst, doch inzwischen wäre es schon eine große Überraschung, wenn sie sich nicht für die Olympischen Spiele qualifizieren würde. "Das ist ein Wahnsinnsgefühl", schwärmt Hering.

Bis dahin allerdings hat sie noch ein paar Termine. An diesem Samstag zum Beispiel startet sie in Portland, USA. Dort werden die Hallen-Weltmeisterschaften ausgetragen. Viele Leichtathleten haben auf die Hallensaison verzichtet, um sich voll und ganz auf Olympia zu konzentrieren. Christina Hering nicht. "Ich wollte mir die Chance auf eine Weltmeisterschaft nicht entgehen lassen", sagt sie.

Ausgerechnet Hering, könnte man sagen. Deren hoch aufgeschossener Körper als anfällig galt, und die stets betonte, mit ihren langen Beinen nicht gerade prädestiniert zu sein für die engen Kurvenradien. Am Tag vor der Abreise nach Portland sitzt sie in einem Sessel in der Münchner Werner-von-Linde-Halle, die Haare sind noch vom Training mit einem weißen Stirnband zusammengehalten, sie grinst: "Ich glaube, dass ich in der Halle nicht klarkomme, sollte ich nicht länger behaupten." Es würde ihr sowieso niemand glauben.

Die WM-Norm über 800 Meter hat sie erstmals beim Meeting in Düsseldorf erfüllt, wo sie in einem starken internationalen Feld Zweite wurde. In Glasgow legte sie nach, beinahe hätte sie die Zwei-Minuten-Marke geknackt, was ihr im Freien bereits gelungen ist. 2:00,93 Minuten bedeuteten die neuntbeste Zeit, die jemals von einer Deutschen unter dem Dach gelaufen wurde; ihren deutschen Hallentitel verteidigte sie dann in Leipzig mit etlichen Beinlängen Vorsprung, wieder unter der WM-Norm. Im Freien rollt Hering das Feld gerne von etwas weiter hinten auf, in der Halle, erzählt sie, fühle sich die Rennaufteilung wegen der vier Runden ganz anders an: "Es ist eine viel größere Dynamik im Feld, und wenn man mal den Anschluss verpasst, ist es schwer." Dennoch habe sie gerade in Düsseldorf das Gefühl gehabt, "als hätte ich einen Extra-Turbo auf der Zielgeraden". Sie wundert sich selbst, dass sie gerade derart gut in Form ist.

Auch die Sache mit ihrem anfälligen Körper kann man ja so nicht mehr stehen lassen. Klar hatte sie Rückenprobleme vor drei Jahren, ganz enorme sogar, sie war eben auf 185 Zentimeter in die Höhe geschossen und musste sich erst eine dafür taugliche Muskulatur erarbeiten. Doch das hat sie getan, regelmäßig macht sie ihre Übungen, "ich tue alles, was in meiner Macht steht". Und so läuft und läuft sie nun, Sommer wie Winter, ohne auch nur einmal nennenswert verletzt zu sein. Unterwegs hat sie sogar vergessen, dass beinahe jeder Athlet irgendwo zwischen Jugend- und Erwachsenensport eine Leistungsdelle erlebt, das gilt als nahezu unausweichlich. Selbst Hering wartete darauf: "Ich habe nach jeder Saison gesagt: Jetzt wird es aber schwieriger mit den Zeiten. Und trotzdem habe ich mich dann jedes Mal wieder gesteigert." Sie hat es sich abgewöhnt, nach den Ursachen zu forschen. "Man sollte sich nicht fragen, wieso es so gut läuft, sondern das einfach genießen", findet sie - und strahlt.

Herings Aussichten in Portland sind nicht schlecht. Nur 14 deutsche Athleten sind angereist, auch die anderen Nationen nehmen wegen Rio eher spärlich teil. Mit ihrer 800-Meter-Bestzeit liegt Hering auf Rang zehn der Jahresbestenliste, doch drei vor ihr Platzierte starten gar nicht. Vier weitere sind Amerikanerinnen, denen jedoch nur zwei Startplätze zustehen. Hering wird also mit der fünftbesten Zeit ins Rennen gehen. Die Auslese wird dennoch brutal sein, nur die sechs Schnellsten der Vorläufe kommen ins Finale. Andererseits habe die Hälfte davon bereits eine Medaille sicher, rechnet Hering vor. Aufgeregt sei sie nicht, aber voller Vorfreude.

Christina Hering hat nur sehr kurz überlegt, ob sie die Hallen-WM im Olympiajahr tatsächlich wahrnehmen soll. Gemeinsam mit Daniel Stoll, ihrem Trainer bei der LG Stadtwerke München, hat sie sich dafür entschieden. Erfolge genießen, so lange sie da sind. Ein Verletzungsrisiko sieht sie nicht. "Ich könnte auch jeden Tag die Treppe runterfallen", argumentiert sie.

Auf eines muss sie trotzdem aufpassen, das weiß sie: "Ich darf mich jetzt nicht die ganze Zeit in hoher Intensität befinden, ich muss auch mal wieder aus der Belastung rausgehen." Die Reisestrapazen und den Jetlag hätte sie in jedem Fall gehabt, denn selbst wenn sie sich nicht für Portland qualifiziert hätte, wäre sie demnächst nach Flagstaff, Arizona aufgebrochen, zu einem dreiwöchigen Höhentrainingslager. Nun wird sie eben von Portland aus anreisen, 1500 Kilometer die Westküste hinab. Und dort das Trainingslager mal so beginnen, wie man es üblicherweise nicht macht: "Ich werde die erste Woche fast gar nichts tun", sagt sie. Die langen Beine hochlegen. Vielleicht den jüngsten Erfolg genießen. Etwas Sightseeing. Sie war schon mal in Flagstaff, Anfang November, das hat ihr Glück gebracht. Die Kleinstadt wird als Tor zum Grand Canyon bezeichnet. Sofern Christina Hering dort weder eine Treppe noch eine Schlucht hinabstürzt, wird sie sich nach der kleinen Erholungspause auf den Sommer vorbereiten, auf Rio. Die DLV-Norm liegt bei 2:01,50 Minuten. Selbst in der Halle ist sie inzwischen schneller.

© SZ vom 19.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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