Leichtathletik:Gold, Silber, Bronze und eine Flasche Wein

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Allein mit seinem Schatten: Im Ziel blickt sich Gerhard Zorn noch einmal um - aber da kommt keiner mehr. Zorn ist Weltmeister über 400 Meter. (Foto: oh)

Gerhard Zorn wird in Australien Senioren-Weltmeister über 400 Meter. Seinen vielleicht größten Coup landet er im Fernduell mit einem Vereinskollegen

Von Andreas Liebmann, Vaterstetten

Der Schatten begann zu taumeln. Er war immer noch schneller als jener Läufer, der ihn vor sich auf die blaue Bahn warf, aber dieser Läufer musste nun kämpfen. Seine Beine zitterten, zwanzig Meter vor der Ziellinie verließen ihn die Kräfte. Doch sein langer Schatten blieb allein. Kein zweiter schob sich mehr von hinten ins Blickfeld. Hätte Gerhard Zorn nach oben gesehen, er hätte auf einem großen Monitor erkannt, dass er den Rest des Feldes längst hinter sich gelassen hatte, auch den Briten David Elderfield, einen 400-Meter-Spezialisten, dessen Angriff er noch immer fürchtete. Doch Zorns Blick blieb gesenkt. Er sah, wie sich erst sein Schatten, dann auch seine Füße über die Ziellinie quälten. Und er wusste: Er war Weltmeister. Die Reise hatte sich gelohnt.

Gerhard Zorn ist Leichtathlet, 60 Jahre alt. Er startet für den TSV Vaterstetten, und er war 13 600 Kilometer weit angereist ins australische Perth für diesen Moment. 4000 Senioren-Leichtathleten waren zu dieser WM gekommen. "Die Zahl hat etwas am Veranstaltungsort Australien gelitten", sagt Zorn. In Südeuropa hätten sich zu solchen Veranstaltungen schon um die 10 000 Leichtathleten eingefunden, mehr als bei Olympischen Spielen. Allerdings muss man wissen: Es gibt bei solchen Weltmeisterschaften keinerlei Qualifikationshürden. Wer sich fit fühlt, darf mitmachen.

"Für die Veranstalter ist das ein Tourismusfaktor", weiß Zorn. Für die Besten macht es die Wettkämpfe anstrengend und unübersichtlich. Natürlich kenne er viele seiner Konkurrenten, die nicht nur zum Spaß mitlaufen, sondern wie er seit Jahren akribisch auf Titel und Rekorde hintrainieren. Aber wenn da etwa ein Teilnehmer aus Trinidad-Tobago ohne Meldezeit in der Liste auftauche, dann kann er eben doch nicht so genau wissen, ob das nicht vielleicht ein ehemaliger Profi sei. Nach allem, was Zorn wusste, hatte er mehrere Medaillenchancen. Über 100 Meter eher nicht, "dort hatte ich nur gemeldet, um die Abläufe kennenzulernen". Über 200 Meter schon eher. In den Staffeln sowieso. Und eben über 400 Meter: "Da habe ich fatalerweise die beste Meldezeit", hatte er bereits vor der Reise angemerkt.

Zorn übertraf all seine Erwartungen. Über 100 Meter gewann er Bronze, über 200 Meter Silber hinter dem Favoriten Steve Peters, Arzt des britischen Radsportteams. Zorns Zeit, 24,63 Sekunden, entsprach exakt dem deutschen M-60-Rekord. In diese Klasse war Zorn erst vor dieser Saison hineingealtert. Und dann Gold über 400 Meter, in 55,03 Sekunden. Außerdem gewann er eine Flasche Wein, denn über 100 Meter stellte er einen neuen Vereinsrekord auf. Diese Leistung klingt zwar eher unspektakulär für einen Weltmeister, doch sie hat es in sich. Denn der Vereinskollege, dem er den Rekord abknöpfte, heißt Guido Müller. Der ist 17 Jahre älter, hält mehr als ein Dutzend Weltrekorde und wurde bereits drei Mal vom Weltverband IAAF zum Senioren-Leichtathleten des Jahres ernannt. In Perth war er nicht dabei.

"Ich dachte mir, irgendwann muss das doch mal möglich sein", erzählt Zorn, "an einem guten Tag, mit ein bisschen Rückenwind. Seine 100-Meter-Zeit war gar nicht so besonders." Die Vorlaufzeit passte, die im Halbfinale auch, doch der Rückenwind war jeweils zu stark, um einen Rekord gelten zu lassen. Im Finale aber klappte es, 12,36 Sekunden. "Unser Abkommen ist eigentlich ungerecht", gibt Zorn zu, "Guido sagt mir immer etwas zu, wenn ich eine Zeit unterbiete, aber ich muss ihm nichts zahlen, wenn ich es nicht schaffe."

Die Flasche Wein jedenfalls war fällig. Vor den 400-Meter-Läufen änderte sich dann aber alles. Bis dahin habe die Wettkämpfe bei etwa 20 Grad ein eisiger Wind begleitet, der das Warmlaufen mit langer Hose, Pullover und Windbreaker erforderte. Plötzlich aber kam Hitze auf. 37 Grad habe es während des Finallaufs gehabt. Umso gewagter war Zorns Taktik, der den Rivalen Elderfield schon bei 100 Meter eingeholt und nach 150 Meter hinter sich gelassen hatte. "Bei 300 Meter wünscht man sich dann, aufhören zu dürfen." Doch es reichte. Elderfield war abgehängt.

Perth fasziniere ihn, sagt Zorn, gemeinsam mit seiner Frau hat er natürlich noch einige Tage Urlaub an die Wettkämpfe angehängt. Der Metalldetektor am Flughafen wird beim Rückflug allerdings fünfmal piepsen, denn auch mit den Staffeln holte Zorn Medaillen: Silber über 4×100 Meter. Und Gold über 4×400 Meter. Hier reichte es sogar, um den Europarekord aus dem Jahr 1999 um eine Sekunde zu verbessern, gehalten von einem deutschen Quartett um Guido Müller. Und das, obwohl Zorns Staffel einen verletzungsbedingten Ausfall hatte. Sonst hätte sie wohl sogar den Weltrekord angepeilt. Zorn lief gehandicapt, sein Knie schmerzte. In der 4×100-Meter-Staffel war er nämlich gestolpert, als er den Stab übergab, und hatte sich auf der blauen Bahn überschlagen. Das hätte kurz vor der Ziellinie bei seinem 400-Meter-Lauf natürlich nicht passieren dürfen. Unwahrscheinlich, dass es sein Schatten alleine bis über die Ziellinie geschafft hätte.

© SZ vom 10.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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