Leichtathletik:Ein fast perfektes Jahr

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Der Trainer Richard Kick ist 70 geworden, seine Springer waren 2017 sehr erfolgreich. Eigentlich ein idealer Zeitpunkt, sich zur Ruhe zu setzen - doch Kick wird gebraucht.

Von Andreas Liebmann

Einträchtig stehen die drei beieinander und strahlen in die Kamera. Anfang Mai hat der Leichtathletik-Trainer Richard Kick dieses Foto auf seine Facebook-Seite gestellt, dazu schrieb er: "Drei meiner Lieblinge. Bin gerade mit ihnen beschäftigt." Dabei konnte er da noch gar nicht wissen, dass er bald drei deutsche Meister in seiner kleinen Münchner Trainingsgruppe haben würde, denn das passierte Monate später, Anfang August in Ulm. Doch auf dem Foto sieht man ja auch nicht etwa David Kirch, Paul Walschburger und Yannick Wolf, seine erfolgreichen jungen Springer - sondern eine Taylor, eine Gibson und eine Martin. Drei seiner liebsten Gitarren.

Richard Kick hat mehrere Leidenschaften. Eine sieht man gleich, wenn man sein Haus in München betritt: Ein altes Foto von ihm als deutschem Dreisprung-Meister hängt im Flur an der Wand, daneben die zugehörige Urkunde. 16,17 Meter ist er im Jahr 1973 gesprungen, für den TSV 1860 München. Im Jahr zuvor war er ähnlich erfolgreich, dennoch fehlten ihm drei Zentimeter zur Olympianorm. Am Isartorplatz habe er damals gewohnt, erzählt er, "ich hätte zu Fuß kommen können". Doch er wurde nicht nominiert für die Spiele vor der Haustür. Drei Zentimeter, das ist nicht mehr als die halbe Breite eines Gitarrenstegs. Aber das ist eine andere Geschichte.

Sechsmal Training pro Woche? "Das hat sich so ergeben", sagt er. Er mache das ja nicht für sich

Im zurückliegenden Jahr ist Richard Kick 70 Jahre alt geworden. Er fühle sich nicht so, versichert er, das Haar ist allenfalls leicht angegraut, und wenn er Interesse hätte, schätzt er, könnte er vielleicht sogar Senioren-Weltmeister werden. Doch er hat nicht nur mit dem aktiven Sport abgeschlossen, er war überhaupt raus aus der Leichtathletik. Die Trainerlaufbahn, die er seiner aktiven Zeit hatte folgen lassen, war längst beendet. "Zehn Jahre war ich draußen", erzählt er, "dann hat mich Gerhard Neubauer vor sechs Jahren wieder eingefangen." Neubauer ist zweiter Vorsitzender des TSV München-Ost und Vizepräsident Leistungssport im Bayerischen Leichtathletik-Verband, er hatte Kick wegen dessen Fachwissen ebenso zur Rückkehr überredet wie wegen dessen Persönlichkeit. "Er kann seine Sportler super motivieren und ist immer noch so jung, dass er Dinge vormachen kann, die viele Jüngere nicht beherrschen", schwärmt Neubauer. "Und es gibt Trainer, die würden am liebsten selbst zur Siegerehrung gehen. Richie würde sich viel lieber in die dritte Reihe stellen."

Der Vielsaitige: Richard Kick als Dreispringer 1971 (Foto: imago/WEREK)

Es hat sich jedenfalls als prima Idee herausgestellt, den alten Weggefährten zu reaktivieren. Mit vier deutschen Meistertiteln plus einer Silbermedaille war seine kleine Springergruppe bei den diesjährigen deutschen Meisterschaften der Altersklassen U18 und U20 in Ulm erfolgreicher als mancher Landesverband. "Wir haben eine saustarke Truppe, da kann man schon stolz sein", sagt Kick. Es war aber auch ein perfektes Wochenende in Ulm: "Unvergesslich", findet er, "Wahnsinn!" Zunächst hatte Yannick Wolf auf den Vorlauf der 4×100-Meter-Staffel verzichtet, weil parallel der U-18-Weitsprung anstand. Den gewann er - dank eines sechsten Versuchs über 7,43 Meter. "Bis dahin war er Fünfter", erinnert sich Kick, "dann haut er dieses Ding raus!" Die Staffel der LG Stadtwerke kam auch ohne ihn weiter - und holte tags darauf Gold. Wolf sei da "befreit wie ein Irrwisch" gelaufen. Paul Walschburger gewann in der Altersklasse U20 den Dreisprung vor David Kirch, der dafür im Weitsprung siegte. Walschburger hatte einige Wochen zuvor an der U-20-EM teilgenommen, Wolf hatte die Norm für die U-18-WM zwar geschafft, war aber nicht nominiert worden. Möglicherweise ein Fehler. "Es hat sich ja dann gezeigt, dass er der Stabilste gewesen wäre", betont Kick. Trotzdem war es ein fast perfektes Jahr. "Eigentlich ideal, um jetzt abzutreten", erkennt er.

Doch daran denkt Richard Kick zurzeit nicht ernsthaft. Mit Walschburger und Kirch verbindet ihn eine besondere Geschichte: Walschburger, 19, ist vor einem Jahr nach München gewechselt. Er war als ehemaliger Weitsprungmeister an der Eliteschule des Sports in Nürnberg nicht mehr vorangekommen. Also überredete ihn Kick, zugleich Landestrainer, den Dreisprung auszuprobieren. "Er hätte sonst ganz aufgehört", ist sich Kick sicher. Es klappte, also begann der damals 68-Jährige, gelegentlich nach Nürnberg zu fahren, um den Teenager dort zu trainieren. Ebenso wie dessen Trainingspartner Kirch, der in diesen Tagen erst offiziell von der SpVgg Auerbach/Streitheim zur LG Stadtwerke gewechselt ist, zu seinem Coach und zu seiner Trainingsgruppe. Der 19-Jährige wird nun hier in München sein Abitur beenden.

Richard Kick als leidenschaftlicher Gitarrist. (Foto: privat)

Als Kick wieder einstieg, ging es um ein Training pro Woche. Inzwischen sind es sechs. Dazu Wettkämpfe, Trainingspläne, Lehrgänge, Leistungsdiagnostik. Die Söhne sind längst aus dem Haus, die Ehefrau steht hinter ihm. Wie es soweit kam? Kick lehnt sich im Sessel zurück, blickt kurz zur Deckenlampe: "Das hat sich so ergeben."

Angefangen hatte er hier mit zwei Springern, Daniel Trossmann und David Faltenbacher, doch die Gruppe wuchs, die Erfolge kamen. "Die Athleten haben mich eben gebraucht, um voranzukommen", erklärt er. "Ich mache das ja für sie und nicht für mich. Umso schöner sind jetzt die ganzen Erfolge, denn Erfolg ist der Motor fürs nächste Jahr." Wobei er diesen Erfolg nicht um jeden Preis haben möchte, im Gegenteil. Wenn er sich so umschaue unter gleichaltrigen Sportkollegen, von denen er einige öfter bei Golfturnieren trifft, dann sei er doch umgeben von Titanhüften und künstlichen Kniegelenken. "Ich will, dass meine Jungs irgendwann sagen: Es war schön, aber ich kann immer noch alles machen, was ich machen möchte." So wie er selbst.

1959 hat Richard Kick mit der Leichtathletik begonnen, grinsend zeigt er den Beweis: seinen alten Mitgliedsausweis von der TSG Regensburg-Süd. Damaliger Mitgliedsbeitrag: 40 Pfennig. Den Dreisprung hat er sich später weitgehend selbst angeeignet, doch er hatte immer mehr als nur Sport im Kopf. Auch Gitarrespielen brachte er sich selbst bei, er spielte in Bands, im Treppenaufgang hängt ein Schwarz-Weiß-Bild seiner "Shamrocks". Nach München kam er als Hauptschullehrer, 40 Jahre verbrachte er an ein und derselben Schule an der Weilerstraße. Und er verstand es immer, diese drei Welten in Einklang zu bringen. In seinen Klassenräumen, erzählt er, hingen sechs, sieben Gitarren an der Wand. "Wenn es mal nicht lief im Mathe-Unterricht, haben wir ein bisschen Musik gemacht." Manchmal verschaffte er sich bei Schülern auch mit Liegestützen Respekt oder indem er einen Berg mit Bleiweste schneller hinauf kam als diese ohne Last hinunter. Auch aus dieser Ecke seines Lebens gibt es viele Geschichten. Einmal habe ein Schüler gedroht, ihn "abzustechen", das Messer hatte er gezückt. Die Sache ging zur Polizei und durch die Presse. "Ich weiß noch, wie ich damals im Auto an einer Ampel am Ostbahnhof stand - und plötzlich schaue ich mir aus dem Zeitungskasten selbst entgegen", erinnert er sich lachend. Angst, beteuert er, habe er nie gehabt. Trotz manch schwieriger Schüler hat er seinen Beruf mit Leidenschaft ausgeübt.

"Für immer jung": Eine seiner Gitarren wurde leicht beschädigt, angeblich durch John Lee Hooker

26 seltene Gitarren besitzt Richard Kick, er spielt jeden Tag. Spontan greift er zu einer Zwölfsaitigen, stellt den Fuß auf einem alten Bühnenverstärker ab und spielt ein paar Takte von "Give a little bit". Er kann zu jeder eine Geschichte erzählen, zieht sie aus dem Koffer, schlägt die Saiten an. Ein kleiner Musik-Exkurs, John Lennon, Fleetwood Mac. Eines seiner wertvollsten Exemplare hat einen kleinen Schaden, angeblich vom ehemaligen Besitzer verursacht: der Blueslegende John Lee Hooker. Kick wüsste das zu gerne genauer. Auch auf Facebook sieht man ihn Gitarre spielen, einen alten Ambros-Song: "Für immer jung."

Und Richard Kick als Trainer bei der Gala des Bayerischen Leichathletik-Verbands zwischen seinen deutschen Meistern Paul Walschburger, David Kirch und Yannick Wolf (von links). (Foto: privat)

Zum Siebzigsten lud Kick seine Athleten ein, es sei "ein sehr schöner Abend" gewesen; vielleicht halte ihn so etwas auch selbst jung. Paul Walschburger sang auf der Terrasse und spielte Gitarre. Der 19-Jährige tritt auch als Singer-Songwriter auf. "Wenn er spielt, hängen die Mädels an seinen Lippen", weiß Kick. Er selbst hat das dann lieber in Reihe drei genossen.

Irgendwann, weiß er, wird es mal Zeit sein aufzuhören, er sagt das zum Abschied an der Haustür. Gerade als Landestrainer bekomme man doch auch so allerhand Querelen mit. "Ich will schon noch ein bisschen was von der Welt sehen", erklärt er, "und vielleicht noch ein bisschen mehr Gitarre spielen." Aber um einen guten Dreispringer zu entwickeln, brauche man eben fünf Jahre. Und es gebe da zwei Jüngere, die er gerne noch aus der Jugend herausbegleiten würde. Ehrensache. Was will man auch machen, wenn man gebraucht wird.

© SZ vom 30.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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