Judo:"Blöd, dass es nur eine schaffen kann"

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Amelie und Theresa Stoll vom TSV Großhadern kämpfen in der selben Gewichtsklasse um einen Startplatz für die Olympischen Spiele 2020. Ein Gespräch über Konkurrenz, die Dualität von Sport und Studium und ihre Zwillings-WG.

Interview Von Julian Ignatowitsch

Die Judohalle steht nur ein paar Häuser weiter in derselben Straße, und das ist kein Zufall: Judo bestimmt ihr Leben. Die Zwillingsschwestern Amelie und Theresa Stoll, 22, vom TSV Großhadern sind gerade umgezogen, ihre Wohnung ist fast fertig eingerichtet. Zur Begrüßung gibt es Kaffee in Amelies Zimmer. "Sie ist ordentlicher", sagt die 20 Minuten jüngere Theresa, die es 2017 in die Judo-Weltspitze geschafft hat mit einem Sieg beim Grand Prix in Düsseldorf - als jüngste Deutsche der Geschichte - und EM-Silber. Amelie wartet noch auf den Durchbruch, aber auch sie hatte ein gutes Jahr: Sie wurde Europameisterin der U23 und schaffte es in Den Haag erstmals bei einem Grand Prix aufs Podest - zusammen mit ihrer Schwester. Am kommenden Wochenende finden in Stuttgart die deutschen Einzel-Meisterschaften statt. Vorher sitzen beide noch entspannt nebeneinander auf dem Sofa und essen Schoko-Krapfen.

SZ: Die erste eigene Wohnung: Rufen die Eltern noch täglich an?

Amelie Stoll: Nein, die kennen das. Wir waren vorher auch viel weg. Das mit dem Umzug ging alles richtig schnell. Wir hatten eine Suchanzeige aufgegeben und schon kurz danach einen Treffer. Einen Tag später hatten wir den Besichtigungstermin und die Zusage und zwei Tage später haben wir den Mietvertrag unterschrieben.

Theresa Stoll: Es war sicher nicht leicht für die Eltern, aber das ist ja ganz normal. Wir sind im Herbst Schritt für Schritt umgezogen. Unsere Situation mit Judo und Studium wird sich in den nächsten Jahren nicht verändern und wir wollten nicht länger daheim wohnen. Also war jetzt der richtige Zeitpunkt. Und sie wohnen jetzt auch nur zehn Minuten von unserer Wohnung weg. Die Judohalle ist, wenn wir langsam gehen, zwei Minuten zu Fuß entfernt - das ist ein großer Vorteil, weil das normalerweise unsere erste und letzte Verpflichtung an jedem Tag ist.

SZ: Zwillingsschwestern gelten als praktisch unzertrennlich. Jeden Tag zusammen zwei Mal im Training, in der ganzen Welt zusammen unterwegs - und jetzt auch in einer gemeinsamen Wohnung: Brauchen Sie da nicht privat ein bisschen Abstand?

Theresa Stoll: Das ist schon so. Aber wenn wir jetzt in einer Wohnung zusammen wohnen, dann gibt es ja auch genügend Freiraum. Jede hat ihr eigenes Zimmer.

SZ: Kein Ärger beim Wäsche waschen?

Theresa Stoll: Der Haushalt läuft relativ gut. Meistens macht diejenige, die gerade weniger zu tun hat, die Sachen. Wir teilen das auf. Und wir kochen auch meistens zusammen.

Amelie Stoll: Wir brauchen keinen Putzplan. Wir haben uns ja schon als Kinder ein Zimmer geteilt.

SZ: Auch sportlich sind Sie zusammen erfolgreich. Im November standen Sie erstmals bei einem großen internationalen Turnier in Den Haag zusammen auf dem Siegerpodest. Wie war das?

Auf der Matte Gegner, daheim auf dem Sofa in Großhadern ein harmonisches Geschwisterpaar: Theresa, links, und Amelie Stoll. (Foto: Florian Peljak)

Amelie Stoll: Das war schon cool. Theresa wurde Zweite, ich war Dritte. Am Ende kam sogar der Präsident des Weltjudoverbandes zu uns und wollte ein Foto machen.

Theresa Stoll: Eine tolle Erfahrung! Wir hatten vorher direkt gegeneinander gekämpft (Theresa gewann, Anm. d. Red.), letztlich hat es für uns beide ein gutes Ende genommen.

SZ: Wie ist das, wenn man der Schwester auf der Matte gegenübersteht und weiß: Jetzt muss ich sie gleich auf den Rücken werfen?

Theresa Stoll: Wir kennen das ja. Wir haben, seit wir mit Judo angefangen haben, immer gegeneinander gekämpft, auch im Training. Klar ist das nicht cool. Aber wir sind in der gleichen Gewichtsklasse, da kann man es halt einfach nicht ändern.

Amelie Stoll: Natürlich geht es mittlerweile in den Wettkämpfen um mehr. Aber auch in Den Haag haben wir uns vor unserem direkten Kampf, wie immer, zusammen aufgewärmt. Warum sollten wir das ändern? Viele Überraschungen gibt es nicht mehr. Man weiß, was die andere macht und denkt.

Theresa Stoll: Und trotzdem kann jede einen Fehler machen, den die andere ausnutzt. Einfach mal schnell fliegen. Beim Judo kann alles passieren.

SZ: Theresa, Sie haben ein rasantes Jahr hinter sich, als Newcomer in die Weltspitze. Wie beurteilen Sie 2017 im Rückblick?

Theresa Stoll: Das war mein bestes Jahr bis jetzt. Es hat gleich gut angefangen mit der deutschen Meisterschaft im Januar. Auch bei den internationalen Turnieren habe ich schnell gemerkt: Ich kann mithalten! Und das ist ganz wichtig im Judo, dass man Anschluss findet und das Selbstbewusstsein wächst. Beim Sieg in Düsseldorf hatte ich vier Kämpfe und habe vier Mal im Golden Score gewonnen, also echt knappe Kämpfe mit nur einer Wertung Unterschied. Und an so einem Turnier wächst man - mit jedem gewonnenen Kampf auf diesem Niveau bekommt man mehr Selbstbewusstsein. Das ist das Wichtigste bei den großen Turnieren, da entscheidet der Kopf und wie man auftritt. Mit dieser Bestätigung bin ich dann auch zur EM gefahren, ohne Druck. Dass es dort Silber wurde, hätte ich vorher auch nicht gedacht. Und dann habe ich im Sommer ja noch mein Physikum gemacht. Das war mit dem Olympia-Zyklus das Beste, 2018 beginnt schon die Qualifikation für 2020. Ich bin froh, dass das jetzt vorbei ist.

SZ: Sie sind Hochleistungssportlerin und studieren Medizin. Wie lässt sich das überhaupt vereinbaren?

Theresa Stoll: Ich muss meinen Tag schon gut durchplanen, damit das alles schaff- und machbar ist. Einfach so in den Tag hinein leben, könnte ich nicht. Ich spreche viel mit meinem Trainer Lorenz Trautmann über die zeitliche Planung und habe auch an der Uni Ansprechpartner, die helfen. Ich bin gut organisiert, lerne in der freien Zeit und bin da mittlerweile gut reingewachsen.

Alles im Griff: Amelie Stoll beim Grand Prix in Den Haag im Bronze-Kampf gegen die Belgierin Mina Libeer. (Foto: imago/VI Images)

SZ: Sie sind von der Deutschen Sporthilfe zum "Sport-Stipendiat des Jahres" gewählt worden. Was bringt Ihnen diese Förderung?

Theresa Stoll: Richtig viel. Mein Stipendium wird jetzt für drei Semester verdoppelt. Ich bekomme in dieser Zeit 800 Euro pro Monat. Das ist eine Menge Geld für uns, für die Miete. Unser Anspruch ist es nach dem Umzug, für uns selbst zu sorgen. Aber einen Nebenjob zu machen, ist zeitlich nicht möglich. Und durch die Änderungen bei der Sportförderung ist es als Judoka nicht leicht, finanziell über die Runden zu kommen. Das war 2017 auch bei Amelie ein Problem.

SZ: Wie beurteilen Sie die Reform der Sportförderung, wenn jetzt nur noch die Allerbesten Geld bekommen?

Theresa Stoll: Die Spitzenförderung ist für Judo schlecht, weil dann viele Leute ganz mit dem Leistungssport aufhören müssen, wenn sie nicht mehr unterstützt werden. In unserer Sportart sind wir auf viele gute Trainingspartner und eine Breite im Nationalkader angewiesen. Denn je mehr und je besser meine Partner sind, desto besser für mich selbst.

Amelie Stoll: Für mich war das im letzten Jahr wirklich schwierig, weil ich das Top-Team knapp verpasst habe. Ich weiß auch bis heute noch nicht, wie viel finanzielle Unterstützung ich für 2018 bekomme. Dadurch wird ein enormer Druck aufgebaut, der einen verunsichert. Wer nicht zur Polizei oder Bundeswehr gehen will und dort Förderung bekommt, sondern normal studiert, ist im Nachteil.

SZ: Sie studieren beide. Zwei Mal am Tag Training, dazu Uni und Klausuren - bleibt da noch Zeit für etwas anderes?

Amelie Stoll: Ja, wir haben schon noch Freizeit. Mein Sportwissenschaften-Studium ist natürlich nicht ganz so aufwendig wie Medizin bei Theresa. Praktisch ist, dass wir viele Freunde haben, die auch Judo machen. Das erleichtert das Ganze.

Theresa Stoll: Das Training ist sozusagen unser täglich Brot, und dazwischen dann halt Uni. Für mich ist das ein super Ausgleich, noch eine andere Welt zu haben, wo nicht nur der Sport im Mittelpunkt steht und man auch geistig gefordert ist.

Theresa Stoll in einer Bundesliga-Begegnung mit dem TSV Großhadern. (Foto: Johannes Simon)

SZ: Amelie, wie fällt Ihre Bilanz 2017 aus?

Amelie Stoll: Ich war anfangs am Ellenbogen verletzt und habe deshalb die EM verpasst. Bei der U-23-EM habe ich mit meinem Sieg dann das geschafft, was Theresa im Jahr zuvor gelungen ist. Bei der WM habe ich für Theresa gekämpft, da lief es aber nicht so gut. Jetzt gilt es, im Frauenbereich Anschluss zu finden. Ab diesem Jahr sammeln wir Punkte für die Olympiaqualifikation. Und natürlich sind Theresa und ich da direkte Konkurrenten, es gibt ja nur einen Startplatz. Also der Druck nimmt schon zu.

SZ: Nur eine von Ihnen kann es 2020 nach Tokio zu den Olympischen Spielen schaffen. Wie gehen Sie mit dieser Situation um?

Amelie Stoll: Wir profitieren sehr davon, dass wir uns gegenseitig haben. Ganz klar, Theresa ist momentan in der Weltrangliste weiter vorne - aber das gibt mir einen zusätzlichen Push und ich versuche, weiter ranzukommen.

Theresa Stoll: Wir stacheln uns gegenseitig an. Wenn die eine schnell läuft...

Amelie Stoll: ...dann will die andere gleich schneller laufen - und dann eine Revanche.

Theresa Stoll: Das ist immer auch mit Humor verbunden.

Amelie Stoll: Wir versuchen das Beste daraus zu machen. Klar ist die Situation blöd. Aber wir denken uns jetzt auch nicht jeden Tag: Okay, es gibt nur einen Startplatz, es kann nur eine von uns schaffen.

Theresa Stoll: Man verdrängt das so ein bisschen. Der Weg dahin ist ein stetiges Verbessern und Pushen. Und es ist ja auch cool, wenn man überall auf der Welt mit seiner Schwester unterwegs ist, mit der man sich gut versteht. Ich denke, unabhängig davon, wer es nach Tokio zu den Sommerspielen schafft, wir werden beide mit der ganzen Familie dabei sein.

SZ: Gibt es überhaupt etwas, was Sie an einander stört?

Theresa Stoll: Ich zuerst (lacht). Es ist das, was ich zum Teil auch an Amelie bewundere, dass sie ein sehr harmoniebedürftiger Mensch ist. Das führt dann aber auch dazu, dass sie oft nicht auf den Tisch haut und sagt, was das Problem ist. Dann könnte man sich manche Sachen sparen, wenn sie manchmal mehr aus sich herausgehen und ehrlich sagen würde, wie es ihr damit geht.

Amelie Stoll: Das dachte ich mir. Bei mir ist es eher andersrum. Theresa kann schon ein ziemlicher Stresser sein. Sie kann sich in Sachen... ja, jetzt nicht reinsteigern, aber schon überreagieren. Das ist eigentlich genau der Gegensatz, der uns auszeichnet.

© SZ vom 15.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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