Behindertensport:Beispielhafte Stehauffrau

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Aus einer Flamme soll ein Lauffeuer werden: Birgit Kober 2012 bei einem ihrer beiden Paralympics-Siege in London. (Foto: AP)

Paralympicssiegerin Birgit Kober soll die Galionsfigur einer neuen Handicap-Abteilung beim TSV 1860 werden

Von Andreas Liebmann, München

Birgit Kober ist es gewohnt, sich den Widrigkeiten des Lebens zu stellen. Sich nicht unterkriegen zu lassen. Sie ist schwerhörig, leidet an Epilepsie, und seit Ärzte ihr eine falsche Medikamentendosis verabreichten, ist die 44-Jährige auf einen Rollstuhl angewiesen. Zwei paralympische Goldmedaillen im Speerwurf und im Kugelstoßen, WM-Titel und Weltrekorde stehen für das, was die Münchnerin aus ihrem Schicksal gemacht hat. Trainiert hat sie in Parks und einer Tiefgaragenzufahrt.

Wer glaubt, mit zwei Goldmedaillen aus London könne das Leben einfacher sein, irrt. Erst vor einem Jahr gab es wieder so eine Begebenheit: Auf dem Weg zum Training im Olympiapark fuhren sechs Trambahnen an ihr und ihrem neuen, einachsigen Elektrorollstuhl vorbei, ohne sie mitzunehmen - bis die regennasse Paralympics-Heldin auf die Gleise rollte, um ihren Transport zu erzwingen. Oder die Sache mit der WM in Doha 2015: Drei Tage zuvor sei ihr Badewannenlifter gebrochen, Kober musste mit Nierenquetschung, Rippenbrüchen und einer Schulterverletzung ins Krankenhaus: "Das war schon hart, dort zu liegen und zu sehen, wie die anderen starten."

Wer so viel Kummer kennt, könnte man nun spötteln, der kann auch getrost zum TSV 1860 München wechseln. Denn tatsächlich wird Kober von Herbst an für die Münchner Löwen starten, sie wird eine Löwin, wenn man so will. Aber Spott ist hier natürlich völlig fehl am Platz. Kobers Vereinswechsel hat ernste, ehrenwerte Gründe: Die Sechziger, die bereits im Blindenfußball aktiv sind, wollen nun um Kober eine eigene "Handicap-Abteilung" aufbauen, wie ihr Leichtathletik-Abteilungsleiter Karl Rauh das nennt. Bei der Mitgliederversammlung am Sonntag sagte Präsident Peter Cassalette, für einen Großverein sei es eine Verpflichtung, sich um Sportler mit Handicap zu kümmern. Die benötigten 25 Mitglieder für eine neue Sparte habe man beisammen, berichtet Rauh, den Vorsitz könne der Neufahrner Oskar Dernitzky übernehmen, er ist stellvertretender Vorsitzender der Special Olympics Bayern. "Da draußen gibt es so viele Athleten, die in den Vereinen isoliert sind", sagt Rauh, "wenn wir die zusammenholen, wird das ein Lauffeuer." Kober, die auch in Rio de Janeiro auf Gold hofft, soll Galionsfigur des Projekts sein.

Kober und Rauh kennen sich lange. "Vor vielen Jahren hat sie mich in Tränen aufgelöst angerufen, sie wusste nicht, wo sie trainieren sollte", erinnert sich Rauh, "sie fühlte sich ausgeschlossen und hilflos." Er habe ihr den Weg in die Werner-von-Linde-Halle und an den Olympiastützpunkt geebnet. Gestartet ist Kober seitdem jedoch für Bayer Leverkusen, weil sie einen Verein brauchte, der dem Deutschen Behindertensportverband angehört - bisher ein Manko in München. "Ich habe drei große Vereine angeschrieben, Leverkusen hat geantwortet", erklärt sie, "und ich bin dafür dankbar. Sie haben mir geholfen, erfolgreich zu werden." Doch sie wolle nun endlich für ihre Heimatstadt antreten, sie sei auch schon immer Löwenfan gewesen. Das Konzept sehe vor, alle Sportarten anzubieten und zu sehen, auf welche Interessen und Potenziale man stoße, an Schulen zu sichten und daraus allmählich eine Struktur abzuleiten. Kober will nach den Olympischen Spielen Trainerscheine machen, sich dann sowohl im Behindertensport als auch in der normalen Leichtathletik-Sparte engagieren. "Ich freue mich darauf", sagt sie, "mir war das schon immer wichtig. In Bayern liegt so viel brach." Und sie hat Zeit: Trotz eines Uni-Abschlusses findet sie keinen Job, so sehr sie sich auch bemüht.

Zuerst freilich kommt Rio. Nach der WM 2013 wurden einige Regeln geändert, Kober ließ sich daraufhin mehrmals umgruppieren, sie startet nun in der Gruppe F36. Was abstrakt klingt, hat entscheidende Auswirkungen. Sie darf nur noch Kugelstoßen. Speer und Diskus sind passé - und sie stößt neuerdings im Stehen. Kober ist ja nicht gelähmt, sie hat eine Ataxie, eine Koordinationsstörung. Vor acht Jahren, als sie damit anfing, sei sie beim Werfen noch aus dem Rollstuhl gefallen, sie musste Matten ausbreiten. Nun habe sie ihre ersten Stürze aus dem Stand eben mit Knieschonern und Ellbogenschützern abgefangen. Inzwischen sind die Schritte sicherer. Ihre drei alten Weltrekorde haben noch Bestand, wegen geänderter Regeln aber keine Gültigkeit mehr. Sie seien "in einer Excel-Tabelle eingefroren", sagt Kober, das mache sie wehmütig. Aber vor einigen Tagen waren Europameisterschaften in Grosseto, Kober stieß 11,20 Meter weit. Das war der Sieg vor der Russin Galina Lipatnikova (9,34 m) - und neuer Weltrekord. Den alten (10,63 m) hielt die Chinesin Qing Wu, die bei Olympia aber wieder kontern könne.

London habe ihr sehr geholfen, sich etwas mit dem zu versöhnen, was ihr widerfahren sei, sagt Kober, auch Rio werde dazu beitragen: "Im Stehen in diesem Stadion anzutreten, wird groß, das gibt mir wieder ein Stück von dem Menschen zurück, der ich mal war", weiß sie. Danach wird sie endlich für ihre Heimatstadt antreten.

© SZ vom 22.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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