Soziale Hilfe für Senioren:Fast wie unter Freunden

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Bezahlte Betreuer des Vereins "Wohnen im Alter im Cosimapark" helfen älteren Menschen dabei, möglichst lange Zeit in den eigenen vier Wänden zu leben

Von Irini Bafas, Bogenhausen

Als Marlene Steck-Kirschner das ärztliche Rezept für Jutta Meier über die Theke beim Physiotherapeuten reicht, zieht die Rezeptionistin die Augenbraue hoch. Meier habe doch vor kurzem angerufen und all ihre Termine abgesagt, sagt sie. "Wissen Sie das nicht?" Steck-Kirschner seufzt. "Nein", antwortet sie. "Dann einen schönen Tag noch." Die 61-Jährige verlässt die Praxis.

Jutta Meier, die eigentlich anders heißt, hatte wohl schon vor längerer Zeit entschieden, die Therapie nicht zu machen. Trotzdem beauftragte sie Steck-Kirschner, die ärztliche Anweisung in ihrem Namen entgegenzunehmen und Therapiestunden beim Physiotherapeuten zu vereinbaren. Es ist nicht das erste Mal, dass Meier kurzfristig ihre Meinung ändert. Steck-Kirschner kennt das Verhalten der 78-Jährigen inzwischen gut, und dennoch wirkt sie für einen kurzen Moment frustriert. Draußen hat es Minusgrade, der Schnee prasselt Steck-Kirschner ins Gesicht und auf die zwei bunten Haarspangen, die sie im kurzen Haar trägt. "Das ist typisch Frau Meier", sagt sie mit tiefer Stimme. "Sie schickt mich los, und dann kriege ich so eine Keule."

Marlene Steck-Kirschner ist Helferin beim Verein "Wohnen im Alter im Cosimapark", kurz Wiac. Die bürgerschaftliche Initiative unterstützt ältere Menschen dabei, möglichst lange in ihren eigenen Wohnungen zu bleiben. Betreuer wie Steck-Kirschner helfen den Vereinsmitgliedern bei alltäglichen Aufgaben im Haushalt oder bei Arztbesuchen und Behördengängen. Bei komplizierteren Diensten organisiert die Wiac zudem Fachkräfte, beispielsweise Fensterputzer, Handwerker oder Fußpfleger. Wenn eines der Mitglieder krank ist, sorgt die Initiative kurzfristig und unbürokratisch für Hilfe. Auch ein Hausnotruf gehört zum Service.

Marlene Steck-Kirschner ist Helferin beim Verein "Wohnen im Alter im Cosimapark", kurz Wiac. (Foto: Catherina Hess)

Gründer des Vereins ist Michael Stegner. Im Januar dieses Jahres wurde er für sein herausragendes ehrenamtliches Engagement mit der Medaille "München leuchtet" in Silber ausgezeichnet. Die Idee sei ihm vor mehr als zehn Jahren bei einem Gespräch in der Waschküche gekommen, erzählt er. Er fragte sich damals, was er sich selbst im Alter wünschen würde. "Von zu Hause direkt ins Altenheim, das ist für die meisten ein Weltuntergang", sagt der 71-Jährige. Zwar gebe es Pflegedienste, doch die seien eben auf Pflege und nicht auf haushaltsnahe Dienste konzentriert. Dadurch entstehe eine Lücke im Gesundheitssystem, und diese Lücke wollen Stegner und seine Mitstreiter durch den Verein schließen.

Die Betreuer der Wiac werden geschult und bekommen eine Aufwandsentschädigung von 12,50 Euro die Stunde. Das ist vergleichsweise viel - in den meisten Fällen bekommen Ehrenamtliche selten mehr als den gesetzlichen Mindestlohn. Die Initiative zahle deshalb so viel, weil sie ihre Betreuer nicht ausnutzen, sondern motivieren wolle. "Viele der Betreuer sind auf die Bezahlung angewiesen", sagt Stegner. Ein Teil des Geldes kommt von Beiträgen - 60 Euro im Jahr zahlt jedes Mitglied an die Wiac. Die Langzeitbetreuung kostet zusätzlich 50 Euro im Monat und umfasst zehn Betreuungsstunden. Bei der Kurzzeitbetreuung sind es acht Euro pro Stunde. Bestimmte Dienste lassen sich auch über die Krankenkasse abrechnen. Mit dem neuen Pflegestärkungsgesetz könnten Vereine wie die Wiac immer wichtiger werden. Denn in Zukunft sollen die sogenannten niedrigschwelligen Angebote gestärkt werden. Die Wiac ist ein solches Angebot. Mittlerweile zählt der Verein um die 300 Mitglieder, etwa 45 haben im vergangenen Jahr die Dienste regelmäßig in Anspruch genommen.

Betreuerin Marlene Steck-Kirschner (rechts) geht jede Woche mit Maria Gisela K. (links) einkaufen. Sie weiß, was die 93-Jährige braucht - zum Beispiel, wenn es um die Wahl der passenden Eissorte geht. (Foto: Catherina Hess)

Meier ist eine von ihnen. Sie ist querschnittsgelähmt und kann seit fast einem Jahr das Bett nicht mehr ohne Hilfe verlassen. Wie viele andere Mitglieder weigert sie sich, in ein Altenheim zu ziehen. Neben dem täglichen Pflegedienst kommt zweimal pro Woche Marlene Steck-Kirschner vorbei. Sie besorgt Lebensmittel und Haushaltsbedarf, manchmal kocht sie auch. Als Meier im vergangenen Jahr im Bad stürzte, fand Steck-Kirschner sie bei einem spontanen Besuch unter dem Waschbecken liegend. Ohne die Betreuerin würde Meier heute vielleicht nicht mehr leben. Nach dem Sturz lag sie mehrere Monate im Krankenhaus, Steck-Kirschner besuchte sie jede Woche. Meiers Kinder seien kein einziges Mal gekommen, sagt sie.

Viele Wiac-Mitglieder sind alleinstehend, haben keine Kinder oder kein besonders gutes Verhältnis zu ihnen. Deshalb sind die Ehrenamtlichen für die Mitglieder oft wie ein Familienersatz. Meier sagt, dass sie niemandem so sehr vertraue wie Steck-Kirschner. Und die Betreuerin weiß das. Deshalb kommt sie immer wieder, auch wenn sie nach manchen Tagen "total platt" ist, wie sie sagt. "Was soll ich tun? Soll ich sie etwa hängen lassen?" Steck-Kirschner schüttelt den Kopf. Sie erzählt, dass sie den Job nur machen könne, wenn sie ihre Leute auch möge. Vielleicht, weil es dann leichter ist, über Unannehmlichkeiten hinwegzusehen. Zum Beispiel den zwecklosen Gang zum Physiotherapeuten. Als sie in Meiers Wohnung zurückkehrt, begrüßt die Querschnittsgelähmte sie mit sanfter Stimme. Steck-Kirschner lächelt.

Die Betreute vertraut ihrer Helferin und übergibt ihr auch die Verantwortung beim Bezahlen. (Foto: Catherina Hess)

Eine Freundin hatte Steck-Kirschner an die Wiac empfohlen. Vorher hatte sie mehrere Jobs, unter anderem im Fitnessstudio und bei einem Verlag. Im Moment ist der Verein ihre einzige Tätigkeit. Als sie anfing, wurde ihr zunächst eine blinde Frau zugeteilt. "Sie war richtig kratzbürstig", sagt Steck-Kirschner. Immer wieder habe die Pflegebedürftige ihre Betreuer beleidigt, bis sich irgendwann keiner mehr um sie kümmern wollte. Auch für Steck-Kirschner waren die ersten Besuche schwer, einmal habe sie sogar geweint. "Ich weiß nicht warum, aber ich habe sie trotzdem nicht aufgegeben", erzählt sie. Irgendwann gewöhnte die alte Frau sich an Steck-Kirschner und die beiden begannen, sich regelmäßig auch außerhalb der Betreuungszeiten zu treffen. Sie gingen Kaffee trinken und spazieren. "Die Leute haben mich gefragt, ob sie meine Mutter ist", erzählt Steck-Kirschner. Mittlerweile ist die alte Frau verstorben. Wenn Steck-Kirschner sich an sie erinnert, strahlt sie. "Am Ende war das eine echte Freundschaft", sagt sie.

Steck-Kirschner betreut derzeit vier Frauen. Mittwochs und Samstags ist sie bei Maria Gisela K., die an einer schweren Lungenkrankheit leidet. Die 93-Jährige ist weitgehend selbständig - ohne Hilfe könnte sie trotzdem nicht mehr in ihrer Wohnung leben. Sie schafft es nicht, ihren Rollator in den Fahrstuhl zu hieven. "Als ich vor 27 Jahren in diese Wohnung gezogen bin, habe ich mir keine Gedanken gemacht, wie es wird, wenn ich mal richtig alt bin", erzählt sie. Ihr Sohn lebt in Berlin und kommt nur selten nach München.

"Ich wüsste nicht, was ich ohne Frau Steck-Kirschner tun würde", sagt K.. Beim gemeinsamen Einkaufen erzählt sie von ihrem Sohn, ihrem verstorbenen Mann und wie sie vor sechs Jahren zum letzten Mal Skifahren war. Marlene Steck-Kirschner hört zu, fragt, antwortet, lacht. Es wirkt, als mache sie das nicht nur aus Pflichtbewusstsein. Sie sagt, dass K. für sie wie eine Freundin sei. "Es ist ein bisschen wie bei der blinden Frau." Und tatsächlich: Wer die beiden Frauen von außen betrachtet, würde wohl nicht ahnen, dass es sich hier um eine Betreuung handelt. Vielleicht funktioniert der Angehörigenersatz manchmal auch in beide Richtungen.

© SZ vom 14.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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