Sendling:Miteinander werden

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Menschen, die sich 1994 bei der Sendlinger Stadtteilwoche von Stefan Caspari fotografieren ließen, tun es 2015 wieder: Die Bilder, die nun in Geschäften entlang der Plinganserstraße zu sehen sind, erzählen viele Geschichten - auch von langen Freundschaften

Von Nicole Graner, Sendling

Es ist das Miteinander-Werden, das eine Freundschaft ausmacht; gemeinsam Zeiten der Veränderung zu durchleben, sie miteinander zu tragen - auch dann, wenn man sich nicht jeden Tag sehen kann. Das Sich-Zugetan-Sein im Wandel der eigenen Biografie, aber auch der Lebensräume und Lebensumstände spiegelt ein Projekt wider, das 1994 seinen Ursprung nahm: Die Idee des Sendlinger Fotografen Stefan Caspari, bei der Stadtteilwoche in einem Glascontainer Sendlinger zu fotografieren, hatte nicht nur einen Bildband zur Folge, den viele Sendlinger kennen, sondern auch, dass sich einfach Menschen getroffen haben, die sich lange kannten. Von gemeinsamen Familienfesten, durch die Kinder oder auch nur vom Hörensagen.

20 Jahre später erfährt diese Idee eine Renaissance: Viele, die sich 1994 schon einmal von Caspari fotografieren ließen, taten es jetzt noch einmal. Trafen sich nach langen Jahren wieder. Begegneten sich neu. Erinnerten sich. Und die Zeit hat ihren Lauf genommen. Veränderung ist sichtbar in den "Doppelporträts" vom Werden und vom Sein, die nun bis zum 21. Juni zunächst in den Schaufenstern entlang der Plinganserstraße zu sehen sind.

Die Bilder erzählen also Geschichten, Schicksale. Und es sind subtile Belege von Freundschaften. "Ja, der Michael", sagt Matthias Girtler, und in seiner Stimme schwingt eine Freude mit, die eines deutliche macht: Über seinen Michael lässt er nichts kommen. "Wir beide haben im gleichen Haus gewohnt. Michael Kircher einen Stock über mir. Zur Schule hat er mich immer abgeholt." Damals, als sich die beiden neunjährigen Jungen fotografieren lassen, haben sie eigentlich überhaupt keine Lust dazu. "Meine Mutter wollte es aber unbedingt. Als ein Platzregen über Sendling fegte, sind wir halt in den Container", sagt der heute 29-Jährige. Und so stehen die beiden Jungs 1994 klitschnass vor der Kamera.

20 Jahre später kommen sie trockenen Fußes zum Fotoshooting. Matthias nicht mehr in Schluderhose, sondern mit Jeans und Lederjacke, Michael nicht mehr im bunten, überlangen Pullover, sondern in Montagehose. Beide strahlen, haben ihre Arme um die Schulter des anderen gelegt. So als ob sie ihre so "offene Freundschaft", wie Matthias sie nennt, inszenieren wollten. Einmal in der Woche treffen sich die beiden. In Sendling.

Bei Barbara Bimmerle, 33, und Iris Wojtech, 34, ist es ähnlich. Beide sind in Sendling groß geworden. Sie gehen in denselben Kindergarten, haben später den gleichen Schulweg, sind zusammen in der Pfarrjugend von St. Korbinian und arbeiten an der Zeitung "Zeit der Jugend" mit. 1994 halten sie das Heft in die Kamera. Stolz. Doch dann reißt der Alltag Löcher in den Kontakt. Plötzlich, anlässlich des Foto-Shootings in der Kulturschmiede, bekommt Barbara eine Mail von Iris. "Ich habe vor Freude laut geschrien", sagt Barbara, die in Obersendling wohnt. Und es ist, als wäre die Zeit stehengegeblieben. "Es war alles so vertraut. Meine Iris!", sagt Barbara, die heute vier Kinder hat, und sinniert kurz über das Wiedersehen 2015. "Einen Menschen zu haben, der einen im Herzen begleitet, auch wenn man sich nicht sieht, ist etwas total Schönes." Zwei Dinge weiß sie bestimmt: So lange Zeit, bis sie Iris wiedersieht, soll nicht wieder vergehen. Und die Kleider von 1994 würde sie heute nicht mehr anziehen.

Ein weiteres von 40 Porträts erzählt von einer langen Freundschaft: die von Renate Laub und Brigitte Laschet. In der Kulturschmiede, beim Frauentreff, lernten sich beide Frauen kennen. Man traf sich auf dem Kinderspielplatz, renovierte das Mütterzentrum. "Beide hochschwanger", erinnert sich Laub. Noch heute sind die Familien miteinander befreundet, die Väter, die Kinder. "Und wir, Brigitte und ich", sagt Renate Laub. Ihr Begründung: "Wir mögen uns einfach." Man weiß voneinander, begleitet sich. Im Wandel der Zeit. Viel sei passiert in diesen Jahren, sagt Laub. Man ist wieder in den Beruf eingestiegen, wurde Oma, wurde älter.

"Es ist ein rundes Projekt", geworden, sagt Mit-Initiatorin Tatiana Hänert. "Vom Werden, vom Sein" lässt die Vergangenheit noch einmal reell werden, aber vertieft auch, wie Hänert sagt, die "bewusste Wahrnehmung für Veränderung".

So wie Freundschaften sich verändern, tiefer werden, sich verlieren, sich wiederfinden, so ändert sich auch das Viertel, in dem sie entstanden sind - zumindest dem äußeren Anschein nach. "Hier in Sendling ist es hipper geworden", sagt Renate Laub. Oder wie Matthias Girtler es beschreibt, "schick". Doch die Liebe zu ihrem Viertel ist bei den meisten Porträtierten ungebrochen. Auch eine Freundschaft. Eine lange.

"Vom Werden, vom Sein": Fotoausstellung in den Schaufenstern von Geschäften an der westlichen Plinganserstraße, 11. bis 21. Juni. Ausstellung aller 2015er Porträts von Stefan Caspari, September 2015, Sendlinger Kulturschmiede, Daiserstraße 22. Lesung der Schreibwerkstatt zu den Porträts bei "Kunst in Sendling", MVHS am Harras, Albert-Roßhaupter-Straße 8, Freitag, 9. Oktober, 19.30 Uhr.

© SZ vom 12.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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