Sendling:Der Ödnis heimleuchten

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Stefanie Unruh schaltet am Ratzingerplatz das Licht an und verwandelt die triste Plattform in einen magischen Ort

Von Jürgen Wolfram

Oft ist es die ungewöhnliche Perspektive, der besondere Blick auf das Leben und seine Widersprüche, der Kunst spannend macht. Stefanie Unruh hält in dieser Hinsicht Überraschendes bereit. Vom 15. Oktober an wird die Künstlerin einen Ort illuminieren, den viele Leute für einen Schandfleck halten: den Ratzingerplatz in Obersendling. Sie setzt dem ehemaligen Trambahn-Wartehäuschen dort gewissermaßen ein Licht auf. Genauer gesagt 15 Lichter. Straßenlaternen, Gartenleuchten, Wohnzimmerlampen. Ihren Beitrag zur diesjährigen Reihe "München - dezentral", ausgewählt vom städtischen Kulturreferat, versteht Unruh als buntes, surreal-ironisches Verwandlungsspiel zwischen Außen- und Innenräumen. Nebenbei soll ihre Lichtinstallation mit dem Titel "Heimleuchten" die verpönte nächtliche Ödnis der Gegend, durch die sie häufig mit dem Auto fährt, einfach mal überstrahlen. "Mit meiner Umgebung arbeiten", nennt Unruh ihre Herangehensweise. Die pflegt sie mit besonderer Hingabe.

Die vielseitige Künstlerin versteht es, das Publikum stets aufs Neue zu verblüffen. Den Ratzingerplatz etwa betrachtet sie keineswegs als Unort; im Gegensatz zur allgemeinen Auffassung birgt die verwahrloste Fläche für sie einen ganz eigenen, pittoresken Reiz. "Brache, Unkraut, Verfall - wo gibt es das in Großstädten schon noch. Das Ungeschniegelte und Ungebügelte des Platzes ist geradezu wohltuend", findet Stefanie Unruh. Schade eigentlich, dass hier Umgestaltungen im großen Stil bevorstehen. Feuerwehr-Erweiterung, neue Schulen, Parkdeck-Vergrößerung und Verengung des Straßenraums, letztere zu Lasten des sie faszinierenden Steppencharakters.

"Das Ungeschniegelte und Ungebügelte des Platzes ist geradezu wohltuend", findet die Sendlinger Künstlerin und will das alte Tram-Wartehäuschen illuminieren. (Foto: Robert Haas)

Noch größere Sorgen bereitet ihr allerdings die bevorstehende Lichtinstallation auf der Wartehäuschen-Ruine. Denn da muss eine Menge reibungslos klappen, vor allem in technischer Hinsicht. Die Statik soll stimmen, die Betonbefestigungen der Leuchten halten, Strom fließen. Da ihre Erfahrungen mit Handwerkern eher zweifelhafter Natur sind, lebt Unruh in Anspannung, seit sie die "München - dezentral"-Ausschreibung gewonnen und Ende August einen Probeaufbau vorgenommen hat. Und Herbststürme sollten natürlich ausbleiben, wenn am Ratzingerplatz das Licht angeht. Eigentlich fokussiert sich Unruh lieber aufs Kreative. Doch schon wiederholt musste sie feststellen, dass freie Künstler heutzutage "Bauleitern gleichen, denen man meistens auch noch die Haftung aufbürdet". Vom Kulturreferat und vom Bezirksausschuss immerhin fühlt sie sich bestens unterstützt.

Charakteristisch für das Schaffen der studierten Kunsterzieherin und Absolventin der Münchner Kunstakademie ist ein ebenso häufiger wie gewagter Wechsel von Themen und Arbeitsweisen. Verspielte Installationen, grandiose Collagen, geheimnisvolle Videos, eine mitunter erklärungsbedürftige Jonglage mit Codes und Assoziationen - all das gehört zu ihrem Oeuvre. Bis vor ein paar Tagen konnte man ihr noch auf der Gemeinschaftsausstellung "essentials" im Haus der Kunst begegnen. Imposante Auftragsarbeiten von ihrer Hand zieren beispielsweise das Zentralarchiv der evangelischen Kirche in Nürnberg oder, ganz in der Nähe, das Haus für Kinder an der Herterichstraße in Solln. Dort verzaubert Unruh Buben und Mädchen mit der "Vogellampe", einer Kreation aus Aluminium, Lindenholz, Acrylfarbe, Kabel, Leuchtmittel und Edelstahlseilen. Als Mutter zweier erwachsener Töchter hat Unruh nicht vergessen, was für Kinderaugen ein Hingucker ist.

Die Lichtinstallation mit dem Titel "Heimleuchten" soll die verpönte Ödnis auf dem Ratzingerplatz vom 29. Oktober an überstrahlen. (Foto: Florian Peljak)

Ihr Atelier hat Unruh, die in Sendling-Westpark wohnt, seit 2009 auf der "Platform", einem hallenartigen Künstlerrefugium im signifikanten, blau-gelben Hirmer-Bau an der Kistlerhofstraße. Der liegt nur ein paar Schritte vom Ratzingerplatz entfernt. Praktisch, wenn man eben dort eine Inszenierung plant. Offiziell soll "Heimleuchten" am 29. Oktober eröffnet werden. Im musikalischen Rahmenprogramm treten die Bands Zwinkelman, Beatnikboy und Blue Wave auf.

Davon abgesehen ist auf der "Platform" auch bald wieder was los: Für 12. und 13. November steht die Fortsetzung der mittlerweile gut etablierten Reihe "Open Studios" an, mit viel Kunst, Musik, Führungen. Und mit Stefanie Unruh, versteht sich.

Die Sendlinger Künstlerin, die in Hamburg geboren wurde und überwiegend im Allgäu aufgewachsen ist, dokumentiert ihre Arbeiten gern auf Filmen und in Broschüren. Das dient der Orientierung, denn für leicht konsumierbare "Mitnahmekunst" ist Unruh eher nicht bekannt. Gut also, wenn man noch mal nachsehen kann, was es mit Videobildern von einem wandernden Lichtkreis ("Ich liebe Dich, ich hasse Dich") oder einem Kugelblitz auf sich hat. Ähnliches gilt für Wandinstallationen wie "urban dreams", die das Treiben in der U-Bahn thematisiert. Mysteriös wird es, wenn sich die Künstlerin durch ihre eigene, vernebelte Wohnung bewegt und das Ganze in einer Fotosequenz festhält. Intellektuell anspruchsvoll, wenn ein Wittgenstein-Text zur Funktion der Sprache in Form einer Skulptur entsteht. So vielseitig Unruhs Werk ist, so vielfältig sind ihre Erfahrungen als Künstlerin: Stipendium in New York, Präsentation von Medienkunst auf der Foro Artistico in Hannover, zahlreiche renommierte Auszeichnungen wie der Seerosenpreis der Stadt München oder der Video-Installationspreis der Stadt Marl.

Stefanie Unruh liebt die größere Dimension. Einmal hat sie 30 Innenräume bayerischer Kirchen fotografiert und daraus eine wandbreite Collage entstehen lassen, die das Auge minutenlang bannt. Man spürt Sorgfalt und Tiefgang, passend zur großen Ernsthaftigkeit dieser Künstlerin. Das "Heimleuchten" am Ratzingerplatz wirkt vergleichsweise wie ein magischer Spaß.

© SZ vom 15.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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