Porträt:Türen öffnen in die Vergangenheit

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Wenn die Sollner Buchautorin und akribische Rechercheurin Christine Rädlinger einem Thema oft viele Monate ihres Lebens gewidmet hat, kann sie nur sehr schwer loslassen. (Foto: Robert Haas)

Christine Rädlinger schreibt Bücher über die Isar, Münchens Stadtbäche, Brauereien, Waisenhäuser oder die Jagd

Von Renate Winkler-Schlang, Solln

Wenn Christine Rädlinger durch München geht oder radelt, hat sie einen viel tieferen Blick als die meisten. Die Historikerin sieht immer auch die Vergangenheit, die Geschichte, die dazu geführt hat, dass etwas heute so ist, wie es ist. "Die Isarinseln zum Beispiel waren nicht immer da. Sie sind nicht naturgegeben, sondern über Jahrhunderte von Menschen gemacht", sagt sie, blättert in ihrem Buch "Geschichte der Isar in München" und deutet auf eine Zeichnung. Die Flößer brauchten eine gute Schifffahrtslinie. Die Brücken sichere Fundamente. Oder Sendling: "Ich sehe dort die Entwicklung des Dorfes vor den Toren Münchens vor mir. Sendling war einmal ein Ausflugsziel."

Die Veröffentlichungsliste der begeisterten Geschichtswissenschaftlerin, die sich auf München und Bayern spezialisiert hat, ist mittlerweile lang. Seit ihrer Promotion kommt ein Buch nach dem anderen. Die Armenversorgung der Stadt. 100 Jahre Arbeitsamt. 125 Jahre Geschichte des Vereins der Münchener Brauerein. Die Stadtkämmerei im 19. und 20. Jahrhundert. Oberammergau zwischen Tradition und Fortschritt. Die Stadtbäche, die Lokalbaukommission, die Münchner Brücken, 60 Jahre Kreisverwaltungsreferat - immer wieder taucht sie in neue Themenfelder ein.

Man darf sich das nicht so vorstellen, dass Christine Rädlinger mit einer Idee zu einem einschlägigen Verlag wie Schiermeier oder Volk marschiert und einen lukrativen Vertrag bekommt. Es ist vielmehr so, dass ihre Auftraggeber sie finden, denn sie hat längst einen Namen, wird weiterempfohlen. Institutionen unterbreiten ihr Themen. Das Stadtarchiv, Vereine, Firmen, Kommunen, fast alle städtischen Ämter. "Außer der Abfallwirtschaft", sagt sie und lacht. Aber auch dem Müll würde Rädlinger gewiss spannende Seiten abgewinnen.

Zwei, manchmal drei Jahre dauert so ein Projekt. "Die erste Lesephase ist toll": Sie verschlingt Literatur, notiert die Fragen, mit denen sie später die Archive aufsucht, wo sie diszipliniert über Quellen brütet, "bis der Nacken schmerzt". Handschuhe trägt sie inzwischen dabei, denn immer schlechter verträgt sie den Staub. Und doch ist auch das eine spannende Zeit, sie macht sich Notizen, findet ihre Schwerpunkte, den roten Faden. "Dann", räumt sie ein, "geht es oft tagelang nicht weiter". Sie drückt sich um ihren Schreibtisch in ihrem schönen Sollner Häuschen herum, putzt erst einmal, liest Mails. Bis der Anfang gemacht ist für die zwei bis drei Seiten täglich: "Ich versuche, Sätze zu knoten, die gut klingen, interessant sind und wesentlich." Es finden viel weniger Informationen in den Text, als sie in ihren Bergen von Notizen zusammengetragen hat, dennoch muss trotz aller Vereinfachung alles genau sein. "Ich bin da perfektionistisch. Darum lege ich Wert auf Fußnoten", lacht sie. Für die anschauliche Vermittlung dürfen auch die Bilder, Pläne, historischen Dokumente nicht fehlen.

Da kommt vielleicht doch ihre Freude an der Pädagogik durch. Ursprünglich nämlich hatte die Schwabingerin Englisch und Geschichte fürs Lehramt studiert. Doch schnell wurde ihr klar, dass sie lieber immer wieder neue Fakten recherchieren will als Jahr für Jahr die gleichen zu vermitteln. Manchmal hält sie auch Vorträge, etwa wenn aus einem Buch eine Ausstellung ausgekoppelt wird.

"Ich bin unabhängig", darauf legt Rädlinger Wert. Grundsätzlich fänden die Auftraggeber gerade das sehr gut. Aber es komme zu Diskussionen, wenn sie weniger Schmeichelhaftes zutage fördert. Am Beispiel ihres Buchs über die Aufarbeitung der Heimerziehung in München, Titel "An Weihnachten war es immer schön", beschreibt sie das Ringen, allem gerecht zu werden, vor allem den Berichten ihrer vielen Zeitzeugen. "Da war ich dann schon stolz." Ihr eigenes Lieblingswerk ist das fundierte Buch über die Isar. Es folgte, "quasi als logische Fortsetzung", nach dem über die Stadtbäche, das zwischendurch sogar vergriffen war, und dem über Brücken. Manchmal findet sie Neues zu einem abgeschlossenen Werk - und ärgert sich: "Es ist schwer, ein Thema loszulassen."

Derzeit befasst sich Rädlinger, finanziert von der Rosner-und-Seidl-Stiftung, mit dem Murnauer Moos, und fürs Jagdmuseum mit "Jagd, Macht und Verantwortung". "Die Jagd war ein wichtiges Herrschaftsinstrument ...", beginnt sie, gebannt vom neuen Bereich. Über die Frage, welches Thema sie sich selbst wählen würde, muss sie nachdenken. Blaibach, das Dorf im Bayrischen Wald mit dem Konzerthaus von Peter Haimerl, in dem ihre Mutter jetzt lebt, würde sie interessieren. Oder die Frage, wie der Mensch die Umwelt verändert. Ihr erster Leser ist stets ihr Mann Thomas, ein Maschinenbauer. Liebevoll sammelt er all ihre Bücher. Irgendwann werde sie ihm explizit ein Buch widmen, sagt sie.

© SZ vom 04.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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