Oktoberfest-Doku:Adrenalin, Alkohol, Aggression, Anbandeln

Lesezeit: 4 min

Ursula Gruber und Kim Koch haben einen Dokumentarfilm über das Oktoberfest gedreht. Ein Gespräch über den Mythos Wiesn.

Lisa Sonnabend

Die Dokumentarfilmerinnen Ursula Gruber und Kim Koch, beide 36, haben "Mythos Wiesn - Das Leben ist ernst genug" gedreht. Ein Gespräch über Gänsehaut, Gerangel und den Mythos Wiesn.

"Ein Wiesnbesuch ist eine emotionale Berg- und Talfahrt": Kim Koch (li.) und Ursula Gruber (Foto: Foto: sonn)

sueddeutsche.de: Was macht den Mythos Wiesn aus?

Ursula Gruber: Der Mythos Wiesn wird in einer Szene besonders deutlich. Es ist 9 Uhr in der Früh, das Löwenbräuzelt öffnet die Türen. Die Menschen stürmen hinein, springen über die Bänke, um einen freien Tisch zu ergattern. Innerhalb von drei Minuten ist das Zelt total überfüllt. Man denkt, es sei im Zeitraffer gedreht, aber es ist in Echtzeit aufgenommen. Das ist Wahnsinn.

Kim Koch: Wir haben den Film in Kapitel aufgeteilt, die den Mythos ausmachen: Massenfeier, kollektiver Rausch oder kollektive Freude, Alkohol, Aggression, Musik, Rituale, Trachten, Brauchtümer. Und dieses Flirten, das Anbandeln, sich kennen lernen, Kontakte knüpfen. Ein Wiesnbesuch ist eine emotionale Berg- und Talfahrt.

sueddeutsche.de: "In dieser Bierhölle hätte sich ein anderer Filmer am zweiten Tag aufgehängt", hat Herbert Achternbusch nach den Dreharbeiten zu seinem 1976 entstandenen Film "Bierkampf" gesagt. Muss man verrückt sein, um auf der Wiesn einen Film zu drehen?

Koch: Das Thema Wiesn ging uns leicht von der Hand. Wir hatten sofort so viele Bilder im Kopf und konnten uns so viel vorstellen. Und deswegen war das schnell, nicht mehr 'Oh nein, Wiesn!', sondern 'Wow, das gibt ganz viel her!'. Das Drehen im Zelt war aber trotzdem eine Herausforderung - allein schon kräftemäßig.

sueddeutsche.de: Wie war's dann?

Koch: Der Mensch ist in der Lage sich an krasse Dinge schnell zu gewöhnen. Man steht mittendrin und man steht's einfach durch. Und man erlebt im Gegensatz zu den vielen Betrunken, die vor die Kamera laufen, auch viele schöne Sachen.

sueddeutsche.de: Was ist das Schöne auf der Wiesn?

Gruber: Ich werde in Zukunft immer am letzten Abend auf die Wiesn gehen. Es ist Wahnsinn, wie die Mitarbeiter zum Schluss auf die Musikbühne gehen, sich verabschieden und bedanken. Im Film gibt es diesen Moment, als die Tische schon alle abgebaut sind und die Trompeter vor leerem Zelt mit lauter Müll ihr Abschiedsständchen für die Mitarbeiter spielen. Alle sind total heiser und fertig, aber auch euphorisch weil alles geschafft ist. Alle Mitarbeiter liegen sich in den Armen, manche weinen. Man merkt so richtig, die kennen sich schon ewig. Alles was vorher nervig war, ist dann vergessen. Das war etwas ganz Besonderes.

Koch: Das Allerschönste ist für mich die Stimmung im Zelt, bevor es los geht. Wenn man die Spüler kennen lernt, die Leute aus der Hendlküche, den Griller. Wenn man sieht, wie der Wiesnwirt morgens mit seinem Personal frühstückt, und wir sitzen selbst mittendrin. Das ist wie eine Familie, sie sind alle gut drauf, sie motivieren sich für die zwei Wochen. Außerdem gibt es keine klassischen Hierarchien - auch jeder Spüler ist wichtig.

sueddeutsche.de: Warum habt ihr das Löwenbräuzelt als Drehort ausgewählt?

Koch: Das Löwenbräuzelt ist bodenständig, da geht jeder hin. Der Wirt Wiggerl Hagn ist der dienstälteste Wiesn-Wirt, ein richtig gestandener Bayer. Seine Tochter Stefanie Spendler ist auch Wiesn-Wirtin und verkörpert die jüngere Generation. Die Generationen vermischen sich hier. Am Wochenende kommen viele Touristen, es gilt als das Italiener-Zelt. Klar, Italiener vertragen weniger Alkohol, sind temperamentvoller und leichter aus der Reserve zu locken - aber sie gehören einfach dazu. Nach dem Attentat von New York 2001 haben die Italiener dem Wirt die Wiesn durchgeboxt, das Zelt wäre sonst leer gewesen.

Szenen aus dem Film
:Mythos Wiesn

Adrenalin, Alkohol, Anbandeln. Ursula Gruber und Kim Koch, beide 36, haben einen Dokumentarfilm über das Oktoberfest gedreht.

sueddeutsche.de: Wenn ihr den Film vor 50 Jahren gedreht hättet - was wäre am Mythos Wiesn anders gewesen?

Koch: Damals gab es auch schon Massen und das Geschunkel in den Zelten. Es kamen allerdings noch nicht so viele Touristen. Die Leute hatten noch nicht die Möglichkeit, aus aller Herren Länder anzureisen.

Gruber: Wahrscheinlich hätten wir ein paar mehr Prügeleien filmen können. Es wären ganz andere Fahrgeschäfte da gewesen, aber die wären für die damalige Zeit auch das Nonplusultra gewesen. Zurückblickend ist alles ganz nostalgisch, aber damals war es auch High-Tech.

Koch: Vor 50 Jahren hätte sich vielleicht die bayerische Jugend bewusster abgegrenzt. Sie wären wohl eher in ihrem Rock'n'Roll-Outfit gekommen und nicht in Tracht. Die jungen Leute sind ja erst seit kurzem total heiß darauf, in Tracht zu kommen.

sueddeutsche.de: Freut ihr Euch auf die Wiesn?

Gruber: Sehr. Wir haben uns sogar beide ein Dirndl geliehen und gehen sicherlich ein paar Mal hin. Beim Einzug der Wiesnwirte werden wir auch dabei sein. Das Oktoberfest fand ich immer schräg, aber jetzt kann ich den Mythos absolut nachvollziehen.

Koch: Genau. Plötzlich findet man diese bayerische Musik oder die Stimmungsmacherei in den Zelten gar nicht mehr so schrecklich. Wir waren ja beim Drehen immer stocknüchtern. Aber wenn man mitten im Zelt steht und erlebt, wie die Massen anfangen zu singen, manchmal sogar, ohne dass Musik gespielt wird, da bekommt man eine richtige Gänsehaut. Ich freue mich sehr auf das Oktoberfest. Wir kennen jetzt das komplette Löwenbräuzelt, Schausteller und Stammgäste. Und wir kennen die Hintereingänge an den Zelten und wissen, wie man am Wochenende in die Zelte reinkommt.

sueddeutsche.de: Wie denn?

Gruber: Wenn man eine Bedienung kennt, ist sehr viel geholfen. Also wenn man mal in einem Zelt drin ist, dann sollte man sich mit seiner Bedienung gut stellen, viel Bier trinken, immer freundlich bleiben, nicht einschlafen.

Koch: Und nicht betrunken oder aggressiv an der Tür stehen. Das Klischee, dass nur noch die Schicken, Schönen, Reichen in die Zelte kommen, das stimmt nicht. In die meisten Zelte kommt man schon rein - auch am Wochenende.

"Mythos Wiesn - Das Leben ist ernst genug" ist am Samstag, den 27. September um 21:50 Uhr im Bayerischen Rundfunk zu sehen.

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