Null Acht Neun:Vor der Inventur

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Im mittleren Alter wird man von einer umfassenden Amnesie erfasst. Vielleicht geht das der Stadt gerade ja auch so?

Kolumne von Johan Schloemann

Unsere Chefredaktion hat eine Warnung ausgegeben: Bitte nicht jeder Text in dieser SZ-Silvesterausgabe solle zu einem verkappten Jahresrückblick werden. Mir fällt es sehr leicht, diese Warnung zu beherzigen, denn ich kann Ihnen ohnehin kaum sagen, was in diesem Jahr passiert ist. Es gehört zum veränderten Zeitverhältnis der mittleren Jahre, dass man, während man seinen Kindern lauter unvergessliche Erlebnisse verschafft, von einer umfassenden Amnesie erfasst wird. Ja, sogar je schöner, je intensiver all die Ereignisse waren, an denen man teilnehmen durfte, desto vorbeigerauschter und desto schlechter datierbar werden sie.

Ich weiß das, weil ich - war es in diesem Jahr? - ein philosophisches Buch über die Midlife-Crisis gelesen und offenbar auch in der Zeitung besprochen habe. Seitdem werde ich zwar etwas komisch angeschaut von der edlen kleinen Schar der Feuilletonleser in dieser Stadt: Ist das nicht der Mann, der die altersbedingte Delle seiner Lebenszufriedenheit (der Tiefpunkt liegt statistisch bei 46 Jahren) hinter der Fassade eines gelingenden Lebens irgendwo im Münchner Osten versteckt? Aber das Midlife-Crisis-Buch zu lesen hatte auch Vorteile. Zum Beispiel die Gewinnung eines sehr tröstlichen Satzes, den ich mir natürlich aufschreiben musste, um ihn zu behalten: "Etwas verpasst zu haben, ist die Konsequenz aus der Pluralität des Wertvollen."

Diese Einsicht, mit der man jedes Mal auf die sozialen Medien antworten könnte, wenn sie einen mit einem "Falls du es verpasst hast"-Hinweis nerven, scheint mir auch gut zum Münchner Lebensgefühl zu passen. Das muss man ja schätzen lernen an der südlichen Mentalität: die berühmte Neigung, Fünfe gerade sein zu lassen. Erst über den Transrapid diskutieren, dann jahrzehntelang nicht mal einen schnellen S-Bahn-Anschluss an den Flughafen hinkriegen. Erst endlos über die Gestaltung eines Fahrradweges in einer Durchgangsstraße grübeln, dann einfach unter denselben halsbrecherischen Bedingungen Tempo 30 dranschreiben. Erst schöne Podien zu einem besseren Städtebau veranstalten, dann die Investorensiedlungen einfach weiterwursteln lassen. Erst den Söder ...

Wie gesagt, ich habe Verständnis für die Vergesslichkeit. Vielleicht hat ja München insgesamt, zwischen Maibaum und Megacity, gerade eine Art Midlife-Crisis. Also mag es den Moment genießen, auf Bilanzen pfeifen und es jetzt erst mal, Pluralität des Wertvollen!, krachen lassen. Bin ich dabei. Ich fürchte nur, bald kommt doch mal die Zeit der Inventur.

© SZ vom 30.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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