Musik:Der Flöte verfallen

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Im hohen Alter kann man kein Instrument mehr lernen? Eine Gruppe im Seniorenstift belehrt ihre Zuhörer eines Besseren, etwa mit Renaissance-Musik

Von Franziska Gerlach

Womöglich hätte es Orlando di Lasso, Münchner Hofkapellmeister und einer der wichtigsten Komponisten der Renaissance, etwas irritiert, dass da Gesundheitsschuhe den Takt seines "Ad altre le voi dare" wippen. Ansonsten hätte er aber sicher nichts zu mäkeln gehabt: Wenn die betagten Herrschaften mit ihren Altflöten, Tenorflöten und Bassflöten die hübsche Melodie in moderatem Tempo die Wände des Konzertsaals im Haderner Augustinum hochschicken, dann klingt das nämlich fast wie bei Profis. Schließlich proben die Bewohner des Seniorenheimes jeden Dienstag. Oder, um es mit Ortrud Tappe zu sagen, der mit 93 Jahren ältesten Musikerin der Senioren-Flöten-Gruppe: "Wir studieren das ein."

Dieser Satz wiederum sagt natürlich etwas aus über die Spätberufenen auf den blauen Stühlen, die das Flötespielen erst im hohen Alter begonnen haben. Auch wenn manche, das muss man ehrlich sagen, schon früher im Chor gesungen und ein Instrument gelernt haben: Marieluise Baur, 86 Jahre alt, hat über 70 Jahre hinweg Cello gespielt, wie sie erzählt. "Nur als Laie, aber mit Begeisterung." Erst vor einem dreiviertel Jahr hat sie nun die Flöte für sich entdeckt, was man allerdings fast nicht meinen möchte, wenn man sie mit konzentriertem Blick und flinken Fingern spielen sieht. Aber wie gesagt: Wo anspruchsvolle Stücke einstudiert werden und nicht einfach nur Flöte geübt wird, da wird Musik eben auch mit gewisser Ernsthaftigkeit betrieben. Hänschen klein, ging allein? Geht gar nicht. Und wie zum Beweis, dass der Anspruch der neunköpfigen Gruppe ein anderer ist, spielt Barbara Hintermeier, die Lehrerin, das Kinderlied an. Kurz nur. Aber die paar Töne reichen, um sich aufs Heftigste zurückzusehnen nach Orlando di Lasso, nach den alten, deutschen Volksweisen und den Stücken, die der Italiener Giorgo di Mainerio im Jahr 1578 für sein Tanzbuch komponiert hat. Denn all das hat Hintermeiers Flötengruppe im Repertoire.

Hänschen klein - geht gar nicht! Orlando di Lasso, alte Volksweisen oder Stücke von Giorgo di Mainerio hat Barbara Hintermeiers (Mitte) Gruppe im Repertoire. (Foto: Robert Haas)

Barbara Hintermeier gründete die Gruppe im Jahr 2012. Erst war es nur eine Seniorin, mit der sie auf deren Wunsch am Augustinum Flöte spielte. "Doch dann wurden es mehr und mehr", erzählt Hintermeier. Die Münchnerin mit den wachen Augen und dieser unbändigen Energie in der Stimme hat Oboe und Blockflöte in München, in Basel und in Wien studiert, sie gibt Privatunterricht, unterrichtet an Schulen Bläserklassen und schreibt Lehrwerke. Speziell für Senioren hat sie eines für Tenor- und Altblockflöten verfasst hat, das 2015 mit dem Deutschen Musikeditionspreis ausgezeichnet wurde, "Senioren musizieren: Blockflöte", heißt es. Zwei Bände gibt es inzwischen, Hintermeier schiebt sie über den Tisch. Die Noten darin hat sie vergrößert, an den Seiten sind die jeweiligen Griffe abgebildet, als kleine Gedächtnisstütze. Auch über Musikhistorie erfährt man einiges: Goethe-Zitate und lehrreiche Einschübe über die Entwicklung der Handhaltung beim Flötenspielen finden sich hier, ja selbst, dass Verdi in Mailand einst ein Altersheim für in Not geratene Musiker, die "Casa di Riposo per Musicisti", erbauen ließ, erfährt man.

Mit ihrem Ensemble am Augustinum gibt Hintermeier regelmäßig Konzerte, allein fünf Auftritte hatten die Herrschaften in der Weihnachtszeit. Bei ihrem ersten Auftritt vor sechs Jahren, sagt Hintermeier, hätten die Leute zunächst nur mit halbem Ohr hingehört. Die Flötengruppe irgendwie nicht so ganz für voll genommen. Bis die Zuhörer dann merkten: Hoppla, die spielen ja gut, richtig gut sogar. Und mit Anspruch. Hintermeier klingt stolz, wenn sie sagt, dass sich die Gruppe längst etabliert habe, wie ein siegreicher Boxer im Ring. Nur dass der Kampf, den sie austrägt, der Kampf um das Ansehen der Flöte ist. "Die Blockflöte hat ein ganz schlechtes Image", sagt sie. Und tatsächlich - wen man auch fragt: Der Gedanke daran ruft das Bild von rotznasigen Grundschulkindern hervor, die ihren Instrumenten nicht mehr abzuringen in der Lage sind als ein enervierendes Pfeifen. Dabei, so Hintermeier, sei die Flöte das einzige Instrument, das man auch im hohen Alter noch lernen könne. Mit nur wenigen Griffen sei ein Niveau erreicht, auf dem man gemeinsam musizieren könne. Außerdem verbessere regelmäßiges Spielen die Atmung und fördere die Konzentrationsfähigkeit. "Und", sagt die Musikerin, "die Flöte ist nicht nur bezahlbar, sondern auch transportierbar."

Musizieren mit Selbstbewusstsein: Sie "üben" nicht einfach, sie "studieren das ein", sagen die spätberufenen Flötisten. (Foto: Robert Haas)

Auf den Stühlen links und rechts von ihr zustimmendes Nicken. Genau so ist es, sagt dieses Nicken. Und dass man besser Luft bekomme, sagt Asthmatikerin Ortrud Tappe, könne sie nur bestätigen. Keine Frage: Hier, im Augustinum, wird die Flöte von allen geliebt. Helge Hoffmann zum Beispiel, das 81 Jahre alte Nesthäkchen, hat erst mit Mitte siebzig, mit der Gründung der Gruppe vor sechs Jahren, angefangen, Bassflöte zu lernen, eine große Flöte mit einem Knick am Halsstück. Auch Noten lesen musste er erst lernen. Kostet das nicht einiges an Mut, sich spät im Leben noch einmal auf etwas Neues einzulassen? "Ja, mein Gott, es hat mich halt gereizt", sagt Hoffmann. Musik mochte er ja schon immer: Jazz, Swing, Volksmusik und Klassik. Das hört er gern. Zum Musizieren aber war früher einfach keine Zeit. Und die wenigen Klavierstunden, die er als Kind hatte, ruinierten ihm die Amerikaner, als sie seine Familie nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Wohnung in Starnberg vertrieben, erzählt Hoffmann, die Bassflöte im Arm.

Er ist einer, den die Muse geküsst hat, etwas spät vielleicht, aber glücklicherweise nicht zu spät. Die wohl schönste Liebeserklärung an diese besondere Flötengruppe bringt wohl Lehrerin Hintermeiers Vater vor, Ludwig Hintermeier, 93 Jahre alt, den alle hier nur "Papa" nennen. Nicht nur das Musizieren sei es, sagt er. "Es ist das gemeinsame Musizieren."

© SZ vom 17.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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