Münchner Momente:Das Biotop in der Küche

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Während auf dem Land die Insekten verschwinden, finden sie auf dem Erdbeerkuchen eine neue Heimat

Kolumne von Wolfgang Görl

Insgesamt sind dies ja zappendustere Zeiten, schon am Morgen der Söder oder der Seehofer im Radio, da ist der Tag schon gelaufen. Dazu all die anderen Hiobsbotschaften, das Insektensterben zum Beispiel, das dazu führt, dass man die Brummer und Biester, die man früher lästig fand, jetzt auf einmal vermisst. Dies ist verdammt traurig, aber gottlob, es gibt auch gute Nachrichten zur Bestandsentwicklung jener Wesen, die einst zu Unrecht und politisch unkorrekt als Ungeziefer diffamiert wurden. Die Insekten, deren natürliche Lebensräume vergiftet oder zubetoniert sind, haben einen Ersatz gefunden, ein Refugium, in dem sie sicher sind vor den Errungenschaften der modernen Landwirtschaft. Die Rede ist von der Küche. Vielleicht nicht jede Küche, aber zumindest die Küchen jener Menschen, die aus Prinzip gewaltfrei sind und schon vor Zeiten ihre Fliegenklatschen zu Pflugscharen umgebaut haben. Bei ihnen versammeln sich alle heimatlos gewordenen Kerbtiere und bescheren der Hausfrau oder dem Hausmann wundersame Erlebnisse. So war jüngst ein Erdbeerkuchen, der über Nacht auf dem Büffet stand, am folgenden Morgen dermaßen mit Fruchtfliegen übersäht, dass er wie ein Mohnkuchen aussah und als solcher hätte serviert werden können, wären die Fliegen bei der ersten Berührung nicht davongeflogen.

In derselben Nacht waren auch diverse Motten und Falter hinzugestoßen, außerdem eine Fleischfliege, einige Marienkäfer, etliche Heuschrecken sowie eine Schabe, die missmutig aussah und offenbar nichts Gutes im Schilde führte. Seither ist die Küche artenreicher als jedes Getreidefeld und hat gute Chancen, zum Biotop erklärt zu werden. Es versteht sich von selbst, dass die chemische Keule keine Lösung ist, aus moralischen Gründen und wegen des Erdbeerkuchens. Man könnte aber das Fenster öffnen und hoffen, dass Vögel in die Küche fliegen und die Insekten vertilgen. Doch es gibt ja kaum noch Vögel, und diejenigen, die es gibt, sind zu faul zum Jagen. Nein, der verantwortungsbewusste Mensch greift zu einem Lebendfangerät und trägt die Viecher einzeln ins Freie, von wo aus sie hoffentlich den Weg in die Nachbarwohnung finden. Meist aber kommen sie zurück. Das ist nun mal der Preis für das Leben in der Stadt. Wer das nicht mag, muss aufs Land ziehen, hinaus in die unbelebte Natur.

© SZ vom 25.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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