Münchner Ärztin leistet Hilfe in Krisengebieten:Botox und Bomben

Lesezeit: 4 min

Luitgard Wiest lebt in zwei Welten: In Somalia, Mosambik oder Tschetschenien behandelt sie Kriegsverletzungen, daheim in München betreibt sie eine Praxis, die sich auf Faltenbehandlung spezialisiert hat. Ärztin wollte sie ursprünglich nicht werden, doch ihre Erfahrungen in Äthiopien ließen sie nicht mehr los.

Yvonne Poppek

Es ist wie eine Fahrt durch die Hölle, und die Kamera fährt mit. Eine armselige Hütte reiht sich an die andere, endlos. Provisorien sind es, aus Ästen, Plastik- und Stofffetzen. Tausende Flüchtlinge leben in diesen windigen Unterkünften am Rande von Mogadischu. Der Blick auf die schäbigen Notquartiere ist von einem Team der ARD aus dem fahrenden Auto aufgenommen worden. Auf der Rückbank des Wagens sitzt die Ärztin Luitgard Wiest; sie hat ein weißes Tuch über das Haar gelegt, trägt eine leichte, beigefarbene Jacke, darunter ein T-Shirt der Hilfsorganisation "Cap Anamur". Angesichts der zerstörten Stadt, des Elends überall und der allgegenwärtigen Waffen ist sie fassungslos, findet auf die Fragen der Reporter kaum Worte.

Auf der einen Seite ästhetische Korrekturen, auf der anderen Kriegsverletzungen. Auf der einen der Wohlstand rund um die Residenzstraße, auf der anderen die Armut von Mogadischu. Diese zwei Welten versucht Luitgard Wiest zu vereinbaren. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Diese Aufnahmen stammen von Mitte August. Zwei Wochen lang arbeitete Luitgard Wiest in der Hauptstadt Somalias. Für "Cap Anamur" war sie im Banaadir-Krankenhaus, um dort die medizinische Situation einzuschätzen, die Anzahl der Patienten, die benötigten Medikamente. Und natürlich, um als Ärztin Notfälle zu behandeln. Hundert bis zweihundert Kinder kämen jeden Tag dorthin, erzählt Wiest. Sie half dort der einzigen Kinderärztin. "Da schuftet man von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, einfach weil die Zeit so knapp ist", sagt sie. Die Situation in Mogadischu ist so gefährlich, dass sie bei der Arbeit ständig beschützt werden musste. "Soldaten mit Kalaschnikows zwischen den Kindern" - dieses Bild schießt Luitgard Wiest plötzlich in ihre Erinnerung, einen Moment lang trübt sich ihr Blick.

Während Luitgard Wiest von ihrem Einsatz in Mogadischu erzählt, sitzt sie in ihrem Garten mit idyllischem Seerosenteich in Harlaching. Ihre Kurzhaarfrisur ist perfekt gelegt, das Make-up fein aufgetragen. Sie trägt ein beigefarbenes Sommerkleid mit braunem Fleckenmuster und dezenten Schmuck. Luitgard Wiest ist eine aparte Erscheinung, man sieht ihr nicht an, dass sie 1939 geboren wurde. Und wenn sie von ihren Einsätzen für "Cap Anamur" spricht und von ihrem Leben in Deutschland, prallen schier unvereinbare Gegensätze aufeinander. Sie nennt das knapp "zwei Welten".

Wie groß die Distanz zwischen diesen beiden Welten ist, wird deutlich, wenn Wiest von ihrer Arbeit als Ärztin in München erzählt. 1977 hat sie eine Praxis in der Residenzstraße eröffnet - als Hautärztin. Speziell in der ästhetischen Dermatologie hat sie sich einen Namen gemacht. "Die Haut ist ein wunderbares Organ", sagt sie. Als eine der ersten Hautärzte in Deutschland habe sie begonnen, Botox zur Faltenbehandlung anzuwenden, erzählt sie. Einige ihrer Patienten hätten kosmetische Probleme gehabt. Sie habe diese Probleme lösen wollen, sagt Luitgard Wiest.

Auf der einen Seite ästhetische Korrekturen, auf der anderen Kriegsverletzungen, Notfall-Entbindungen, Cholera-Kranke. Auf der einen der Wohlstand rund um die Residenzstraße, auf der anderen die Armut von Mogadischu. Diese "zwei Welten" zu vereinbaren, gelingt Wiest, indem sie die eine in die andere nicht reinlässt. "Meine Strategie ist, dass man die Schublade zumacht", sagt sie und fügt hinzu: "Ich habe nur zu schätzen gelernt, dass ich hier an meinem italienischen Teich sitzen kann, ohne fürchten zu müssen, dass jemand mit der Kalaschnikow um die Ecke kommt."

Das ist ein Satz, der aus einem Action-Film stammen könnte, gesprochen mit gehörigem Pathos. Luitgard Wiest sagt das so, wie sie auch über Botox und Faltenbehandlung redet. Ruhig und abwägend spricht sie. Wie jene Menschen, die mittlerweile ein so großes Repertoire an erlebten Geschichten parat haben, dass sie sich beherrschen müssen, um nicht von einer zur anderen zu springen, nicht hier noch einen Seitenstrang zu erwähnen und dort einen Verweis einzuflechten. Aber dieses Repertoire schwingt immer mit. Und wenn Luitgard Wiest erzählt, ist klar, dass sie einen Großteil weglassen muss, damit sie überhaupt ein Erlebnis zu Ende erzählen kann.

Aufgewachsen ist Luitgard Wiest auf der Schwäbischen Alb als eines von fünf Kindern. Ihr Vater war Chemiker, ihre Mutter Ärztin. Damals, im Zweiten Weltkrieg, sei ihre Mutter die einzige Medizinerin für eine Kleinstadt gewesen, sagt Wiest. Weil die Mutter oft zu Patienten musste, habe sie selbst nie Medizin studieren wollen. Nach dem Abitur begann sie ein Sprachenstudium und verdiente sich als Stewardess, stationiert in Addis Abeba, ihr Geld. Bei den Aufenthalten in Äthiopien lernte sie deutsche Ärzte und deren Arbeit kennen. Wiest merkte: "Es gibt nichts an medizinischer Versorgung." Sie stellte ihre bisherigen Bedenken zurück und beschloss, Ärztin zu werden, um genau dort helfen zu können.

Nach ihrem Studium in Heidelberg kam sie - als Alleinerziehende einer dreijährigen Tochter - zurück nach Äthiopien, praktizierte an einem Krankenhaus. Weil sich die Sicherheitslage in Äthiopien allerdings bald verschärfte, kehrte sie 1972 nach Deutschland zurück, ihr damaliger Doktorvater in Heidelberg holte sie zu den Dermatologen, bildete sie zur Fachärztin aus. In dieser Zeit bekam sie auch ihr zweites Kind, einen Sohn. Geheiratet hat Luitgard Wiest aber erst sehr viel später, im Jahr 1993, als sie "den Mann ihres Lebens" kennenlernte.

Nach München kam sie eher zufällig, als sich 1977 ihr Plan zerschlug, in Venezuela zu praktizieren: In der Residenzstraße wurde eine Praxis frei, in der sie es sich ganz ruhig hätte einrichten können. Doch schon drei Jahre nach der Eröffnung beschäftigte sie der Gedanke, dass sie ihr Ziel aus den Augen verloren hatte. In dieser Phase sei sie zufällig auf eine Annonce von "Cap Anamur" gestoßen. Die Hilfsorganisation suchte Ärzte zum Einsatz im Krisengebiet. Spontan habe sie die Nummer gewählt - und 14 Tage später saß sie im Flugzeug nach Mogadischu für einen vierwöchigen Einsatz. "Ich hatte wirklich das Gefühl, jetzt richtig zu sein", sagt sie. Das war 1980. Seitdem sperre sie jedes Jahr ihre Praxis für zwei, drei Monate zu, um in Afghanistan, Somalia, Angola, Vietnam, Mosambik oder Tschetschenien zu helfen.

"Man muss doch etwas tun" - so erklärt Luitgard Wiest ihre humanitäre Arbeit. Dass sie dabei schon mitten im Kriegsgebiet in Tschetschenien war, erzählt sie so leichthin, verpackt in die Anekdote, dass bei ihrem ersten Grenzgang zwischen den Fronten gerade der "Tag der Frau" gefeiert wurde, überall an den Panzern Bilder der Partnerinnen hingen und auf Frauen deshalb nicht geschossen wurde. Oder sie erzählt ganz selbstverständlich, wie sie 2005 das erste Mal in Afghanistan war, in der ländlichen Provinz Herat. Hier leistete sie Geburtshilfe - wobei außer dem künftigen Krankenhausgebäude eigentlich nichts da war. "Die ersten drei Geburten habe ich dann eben auf dem Boden gemacht", sagt sie.

Es gibt sehr viele solche Begebenheiten, die Luitgard Wiest erzählen kann. Und dabei wird klar, dass Erlebnisse, die sie einmal in Sprache gepackt hat, für sie an Distanz gewinnen. Dass die Ärztin ihre Schublade aus dem Krisengebiet zwar aufmacht, aber die Dinge darin ganz gut eingewickelt sind. Denn über ihre Einsätze nachzudenken, sagt sie, da bliebe ihr hier wie dort keine Zeit. Luitgard Wiest wiederholt diese Feststellung ganz gerne, beschwörend, sich schützend. Und dann, ganz am Ende des Gesprächs, sagt sie doch: "Jetzt, in Mogadischu, da hatte ich schon ein schlechtes Gewissen wegzugehen. In diesem ganzen Durcheinander." Da holt die eine Welt die andere doch für einen kurzen Moment ein.

© SZ vom 16.09.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: