Mitten in Schwabing:Schöner, glatter Schmeichelstein

Manche Dinge, die schon das Kinderherz begehrte, entfalten sogar für Erwachsene noch eine große tröstliche Anziehungskraft - Kastanien

Von Nicole Graner

Ach, was waren das für Zeiten! Als man als Kind mit einem Stock loszog, um die Kastanien vom Baum zu holen. Ein bisschen Revolution war das, ein bisschen was Wildes. Diese wunderbaren braunen Kugeln aus der stacheligen Hülle herauszuholen, die so herrlich glänzten, in die man Muster schnitzen und mit denen man merkwürdige Tiere basteln konnte! Wie oft staksten sie mit Streichholzbeinen auf Mamas Schreibtisch herum. Und oft pflanzte man eine Kugel einfach ein, beäugte das Wachstum mit großen Augen. Aus manch zarter Pflanze wurde sogar ein großer Baum. Schöne Zeiten! Und jetzt? Kaum sieht man sie noch, die Kindergangs, die einst mit Beuteln loszogen und "Kastanien knüppeln" gingen. So viele Früchte wie einst hängen ohnehin nicht mehr am Baum. Zu oft hat die Miniermotte ihr böses Wesen getrieben, die Blätter verschrumpeln lassen.

Umso schöner ist es, wenn dann doch wieder Momente der Erinnerung wahr werden. Jüngst saß ein Kind am Straßenrand. Es hatte Kastanien auf dem Schoß und bearbeitete eine Kugel mit dem Taschenmesser. Ein anderes, vermutlich an die acht Jahre alt, flitzte auf dem Bürgersteig nahe dem Parzivalplatz herum, den Blick suchend auf den Boden gerichtet. "Da ist noch eine", rief der Junge. "Und noch eine!" Einige Kastanien ließ er liegen. "Die glänzen nimmer!", sagte er und lachte. Besonders aber liebe er die, die noch in der Stachel-Schale steckten. Die seien so schön und glatt. Und die winzig kleinen, die da manchmal auch noch drin steckten. . . Ach, wie schön, dass es sie noch gibt, die kleinen Kastaniensammler.

Und so tut die Schreiberin dieser Zeilen mit Freuden das, was sie jedes Jahr tut: Sie nimmt eine glänzende Kugel, steckt sie in die Jackentasche. Als ein Art Schmeichelstein. Es lässt sich wunderbar damit spielen, wenn man zum Beispiel auf den Bus wartet. Dann im Bus die nächste wunderbare Begegnung. Eine Frau spielt mit irgendwas in ihrer Manteltasche. Sie holt eine Kastanie raus, steckt sie wieder ein. Und lächelt. Die Frau im Geiste neben ihr zückt die ihrige, zeigt sie. Dann lachen beide. Lauthals.

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