Maxvorstadt:Wo der Bohème-Mythos geboren ist

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Im "Alten Simpl" (früher: "Simplizissimus") zechte die Bohème. (Foto: Stephan Rumpf)

Anarchos, Künstler und Schlawiner: Die geistige Wiege des viel beschworenen Schwabinger "Zustands" liegt gar nicht in Schwabing. Ein Buch räumt mit diesem Missverständnis auf - und würdigt die Maxvorstadt.

Von Stefan Mühleisen, Maxvorstadt

Auswärtige wie hiesige Studenten erzählen oft stolz, sie studierten in Schwabing. Manche wundern sich, wenn sie dann am Wirtshaustisch in der Türken- oder Schellingstraße missgelaunt korrigiert werden: Maxvorstadt, nicht Schwabing! Verständlich, denn die geistige Wiege des viel beschworenen Schwabinger "Zustands" - der Bohème-Mythos, die Schlawiner-Legenden - liegt: in der Maxvorstadt. Allein, die unbekannte Schöne emanzipiert sich - die Maxvorstadt erhält die Würdigung und Aufmerksamkeit, die sie verdient. Es hat sich herumgesprochen, dass der Stadtbezirk nichts mehr mit Vorstadt zu tun hat, es rund um die Unis und die weltberühmten Museen urban zugeht.

Doch es gibt auch Bücher, welche die Maxvorstadt aus dem Schatten zerren. Der Hirschkäfer-Verlag brachte 2012 das Buch "Maxvorstadt. Reiseführer für Münchner" heraus, ein Jahr später legte der Stadtarchivar Richard Bauer einen Maxvorstadt-Band der Reihe "Zeitreise ins alte München" vor. Nun folgt der Allitera-Verlag mit dem Sammelband "Die Maxvorstadt. Historische Betrachtungen zu einem KulturViertel".

Studenten erarbeiteten Ausstellungen, die in der U-Bahn-Galerie gezeigt wurden

Das Buch ist die Dokumentation eines ehrgeizigen Projekts: Der Bezirksausschuss Maxvorstadt realisierte im Wintersemester 2013/2014 mit der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) die "Maxvorstädter Vorlesungen". Der Literaturwissenschaftler Waldemar Fromm vom Institut für Deutsche Philologie und Harry Oelke, Inhaber des Lehrstuhls für Kirchengeschichte an der Evangelisch-Theologischen Fakultät, hielten jeweils einen Vortrag; ihre Studenten erarbeiteten Ausstellungen, die in der U-Bahn-Galerie gezeigt wurden. Zudem ist Klaus Bäumler mit von der Partie, bis 2008 Bezirksausschuss-Chef, heute Mitglied im politischen Beirat des NS-Dokumentationszentrums sowie Aktivist im Münchner Forum.

Die Idee ist famos: Maxvorstädter Bürgervertreter tun sich mit Forschern aus der Herzkammer ihres Viertels zusammen - und untersuchen ihr Umfeld. Fabelhaft ist schon die Topografie: Die schachbrettartige Anlage der Stadterweiterung, benannt nach Bayerns erstem König Maximilian I. Joseph, wird heute als vorbildlich für urbanes Leben geschätzt. Bäumler legt dar, dass die Bürger sich das erkämpft haben: Eine Karikatur zeigt, wie ein Mann im Talar seinen breiten Hintern zwischen Theatinerkirche und Siegestor quetscht. Ein Sinnbild für das Expansionsstreben von LMU und TU Anfang der Siebzigerjahre - und den erfolgreichen bürgerschaftlichen Widerstand dagegen.

Protest gegen den Bau eines Konzertsaals im Finanzgarten

Die Erinnerung daran ist verdienstvoll. Doch ist es eher unpassend, dass Bäumler dazu seine politischen Argumente ausbreiten darf und seinen Protest gegen den Bau eines Konzertsaals im Finanzgarten auswalzt. Dankenswert ist, dass er darstellt, welche Bedeutung der vom Abriss bedrohten Paul-Heyse-Villa in der Luisenstraße zukommt. Einige Maxvorstädter werden beim Lesen wohl die innere Faust recken.

Alle können dagegen bei Waldemar Fromm klatschen, wenn er schreibt: "Vieles von dem, was zur Schwabinger Bohème gezählt wird, hat sich in der Maxvorstadt ereignet." Die Rolle des Viertels sei nicht ins Gedächtnis der Stadt eingegangen, "obwohl die Maxvorstadt allgemein als der ,Geist Münchens' gilt". Diesen Spirit, der bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts nicht so recht aufleben mag, leuchtet er gründlich aus. Komponist François-Joseph Fétis, verwöhnt von der Metropole Paris, berichtet von einer "unausdrückbaren Grabesmelancholie" bei der Ankunft in der Maxvorstadt und nennt sie eine öde und verlassene "Totenstadt".

Anarcho-Geist und Experimentaltheater

Der Maxvorstädter Geist erblüht erst mit den Salons in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, etwa in Paul Heyses Villa mit seinem Dichterkreis "Die Krokodile". Ein Feuerwerk an Bildern und Zitaten brennt das Buch für die Schlawiner-Epoche ab. Das Personal der Bohème kommt ausführlich zu Wort, deren Anarcho-Geist in den Sechzigerjahren wieder auflebte. Grandios das Kapitel über das "Schwabinger Experimentaltheater" unter der Leitung von Rainer Werner Fassbinder. Das Ensemble flog wegen seiner provokanten Inszenierungen überall raus, auch aus dem Hinterzimmer der Kneipe "Witwe Bolte" in der Amalienstraße 87.

Bereichernd für den Kanon der Maxvorstadt-Memorabilia ist zudem die Analyse von Kirchenhistoriker Harry Oelke: Er fragt danach, was speziell protestantisch an der Maxvorstadt sei. Die Antwort: eine ganze Menge. Den Keim pflanzte Kurfürst Karl Theodor. Dessen Hofstaat war in der Mehrzahl evangelisch. Zudem war Maximilian I. Josephs Frau Wilhelmine Karoline von Baden Lutheranerin und brachte einen evangelischen Hofprediger mit nach München. Die St.-Markus-Kirche an der Gabelsbergerstraße, erbaut in den 1870er-Jahren, lockte dann das evangelische Bürgertum an.

Das Buch stellt zudem die besondere Rolle des Stadtteils in der Zeit des Nationalsozialismus heraus. Rund um Königs- und Karolinenplatz konzentrierte das Regime viele Einrichtungen des Partei- und Staatsapparats: die Gestapo-Zentrale im Wittelsbacher Palais, das "Braune Haus" an der Brienner Straße, den "Führerbau" an der Arcisstraße. Es wird deutlich: Der inspirierende "Geist Münchens" wütete in diesem Stadtteil auch als destruktiver Ungeist. Etwa im literarischen Salon von Elsa und Hugo Bruckmann am Karolinenplatz, wo Rassentheoretiker und Antisemiten sich die Klinke in die Hand gaben - und auch Hitler ein- und ausging.

Klaus Bäumler, Waldemar Fromm, Harry Oelke und Hubert Schuler (Hrsg.): Die Maxvorstadt. Historische Betrachtungen zu einem KulturViertel, 100 Seiten, 12,90 Euro. Die Herausgeber stellen ihr Buch am Montag, 13. April, im Senatssaal der LMU, Geschwister-Scholl-Platz 1, um 18 Uhr vor.

© SZ vom 11.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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