München:"Hier wurde ich wiedergeboren"

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Eines der Krankenzimmer im Kloster Sankt Ottilien, in dem die Überlebenden behandelt wurden. (Foto: Jüdisches Museum)

Im Kloster Sankt Ottilien entstand im April 1945 das erste jüdische Krankenhaus, dort wurden 5000 Holocaust-Überlebende behandelt

Von Peter Bierl, Landsberg

Es ist April 1945, als im Kloster Sankt Ottilien schwer verletzte Häftlinge ankommen. Sie haben die KZ-Außenlager im Landkreis Landsberg überlebt, waren in Viehwaggons gepfercht und wurden im Bahnhof von Schwabhausen von US-Fliegern versehentlich bombardiert. Die SS hatte ihren Zug als Schutzschild für einen Munitionstransport benutzt. Jetzt suchen sie Schutz in dem nahe Geltendorf gelegenen Kloster, der weltweiten Missionszentrale der Benediktiner, das als Lazarett dient. Doch es ist mit mehr als 1000 verwundeten Wehrmachtssoldaten überfüllt. Der deutsche Kommandant will keine halb toten Juden aufnehmen. Die überlebenden Häftlinge aber lassen sich nicht abfertigen. Einer von ihnen, der Arzt Zalman Grinberg kehrt mit amerikanischen Soldaten zurück, die den Wehrmachtskommandanten mit vorgehaltenem Maschinengewehr bewegen, eine leere, unbeheizte Turnhalle abzutreten. Damit beginnt die Geschichte des ersten jüdischen Krankenhauses in der amerikanischen Besatzungszone. Das Kloster hat vor einiger Zeit sein Archiv geöffnet. Mit Unterstützung von Pater Cyril Schäfer erforschen Wissenschaftler des Jüdischen Museums in München sowie der Ludwig-Maximilians-Universität diese Epoche. Ein ausgeschilderter Rundweg auf dem Klosterareal erinnert an die Zeit sowie eine Ausstellung in der Galerie des Klosterladens. Das Jüdische Museum in München zeigt eine Installation mit Arbeiten des israelischen Künstlers Benjamin Reich dazu. Zalman Grinberg übernimmt damals die Leitung des Krankenhauses. Bis August werden die deutschen Verwundeten verlegt, von September an wird die Einrichtung von den jüdischen Displaced Persons (DP), wie die Menschen offiziell heißen, selbst verwaltet. Sie richten eine Apotheke, eine Schule, einen Kindergarten ein. In der Druckerei werden zwei Bände des Befreiungstalmuds produziert. Das Krankenhaus wird um ein DP-Lager erweitert. Im Oktober kommt der spätere israelische Premier David Ben Gurion zu Besuch.

Erst haben Grinberg und seine Kollegen offenbar erwogen, Sankt Ottilien zum zentralen jüdischen Krankenhaus auszubauen, aber der Ort war zu weit ab von München. Grinberg wurde zum Präsidenten des Zentralkomitees der befreiten Juden im US-Sektor gewählt. Er kämpfte für eine bessere Versorgung und prangerte auf einer Versammlung im Münchner Rathaus im Beisein Ben Gurions die britische Regierung an, die Juden an der Einwanderung in Palästina hinderte.

Anfangs ist die Versorgung im Kloster katastrophal. Die Patienten sind fast verhungert, leiden unter Tuberkulose oder psychosomatischen Störungen. Bis zur Auflösung im Mai 1948 werden hier mehr als 5000 jüdische Patienten behandelt. Die meisten hatten die Ghettos und Vernichtungslager überlebt, einige in Verstecken oder bei Partisanen ausgeharrt. Zu dieser Gruppe gehörten die Eltern von Acharon Bahat, die 1941 aus Riga vor den anrückenden Deutschen geflüchtet waren, in Sibirien überlebt hatten und nach Palästina auswandern wollen. Bahat kommt im Januar 1947 in dem Krankenhaus zur Welt. Er ist eines von mehr als 400 sogenannten "Ottilien-Babys". Einige von ihnen kehrten kürzlich an ihren Geburtsort zurück, als Gäste der Benediktiner. Drei Tage lang tauschten sich Historiker, Zeitzeugen und deren Angehörige auf einem Symposium aus.

Für Überlebende und Ottilien-Babys sind es bewegende Momente. "Hier wurde ich wiedergeboren", sagt Ben Lesser. Er hat Auschwitz und die Todesmärsche überlebt, fiel nach der Befreiung in Dachau ins Koma und wachte zwei Monate später in Sankt Ottilien wieder auf.

Die Ausstellungen in Sankt Ottilien sowie im Jüdischen Museum in München sind bis zum Sonntag, 23. September, zu sehen.

© SZ vom 13.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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