Unterschleißheim:"Wir wollen keine Angst haben und mitmachen"

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Das Stück dreht sich um das Schicksal eines Behinderten während der Nazizeot. (Foto: Catherina Hess)

In Unterschleißheim spielen Gymnasiasten und Mitarbeiter der Behindertenwerkstatt gemeinsam Theater

Von Laura Zwerger, Unterschleißheim

Der junge Anton sitzt in einer Straßenbahn, als ein Herr ihn auffordert, den Platz freizugeben - er sei schließlich behindert, ein Krüppel, und dürfe hier nicht sitzen. Anton ist die Hauptfigur des Romans "Anton oder die Zeit des unwerten Lebens" von Elisabeth Zöller. Die Geschichte beginnt in den 1930er-Jahren und erzählt das Schicksal eines Jungen, der durch einen Unfall behindert wird und vor dem Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten fliehen muss.

Seine Lebensgeschichte, die auf wahren Begebenheiten beruht, wird in dem Inklusions-Theaterstück "Geheimnisse im Kopf" des Carl-Orff-Gymnasiums in Zusammenarbeit mit dem Heilpädagogischen Centrum Augustinum (HPCA) in Unterschleißheim nachgespielt .

Jeder hat eine unterschiedliche Beeinträchtigung - und großes Interesse

Freundschaft und Zuneigung sind ein wichtiges Thema in dem inklusiven Theaterprojekt. (Foto: Catherina Hess)

Knapp 30 Jugendliche und junge Erwachsene proben seit Wochen in dem Saal des Jugendzentrums "Gleis 1", sie sind zur Hälfte Schüler der Oberstufe des Gymnasiums und zur anderen Hälfte Mitarbeiter der Behindertenwerkstatt des HPCA. Lehrer Martin Blum organisiert seit September die Treffen, es ist sein erstes Gemeinschaftsprojekt von Schülern und Menschen mit Behinderung. Die Leiterin der Werkstatt hat ihn vergangenes Jahr gefragt, ob nicht einige ihrer Beschäftigten bei einem Theaterprojekt mitmachen könnten. Jeder hat eine unterschiedliche Beeinträchtigung, das Interesse und die Freude am Theaterspielen sind aber groß.

Anfangs haben sich alle nur zum gemeinsamen Spiel und zu Theaterübungen getroffen, ein Stück auf die Bühne zu bringen war nicht geplant. Schnell führte die Leidenschaft und Euphorie aber zu dem Wunsch nach einem richtigen Stück mit einer großen Aufführung. Dass eine Geschichte ausgewählt wurde, die thematisch die Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung behandelt, das hat die Gruppe selbstständig so entschieden.

Ausgrenzung ist immer noch ein großes gesellschaftliches Thema

Da es sich schließlich um eine Inklusionsgruppe handelt und die Thematik daher einen besonderen Bezug für einige der Schauspieler darstellt, wurde aber besonders kritisch vorgegangen. "Bei der Auswahl des Stückes gab es zuerst Bedenken - die Schüler wollten schließlich keine Behinderten zur Schau stellen", erzählt Blum.

Doch die Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung sei auch heute noch ein Thema. Auf dem Pausenhof höre man immer wieder Beleidigungen wie "Spast" oder "Krüppel", die damit einhergehende Diskriminierung sei den Jugendlichen dabei oft gar nicht bewusst. Und genau deshalb wollte die Gruppe die Geschichte des behinderten Jungen Anton erzählen. "Natürlich geht die Geschichte gut aus, ansonsten hätten wir sie nie als Vorlage genommen", sagt Blum.

Während der Proben ergaben sich immer wieder Situationen, die erahnen ließen, dass die Schauspieler mit Behinderung selbst immer wieder Opfer von Diskriminierung werden. "Wenn der Protagonist Anton als Krüppel oder minderwertig beschimpft wird, reagieren manche unserer Gäste teils sehr intensiv", sagt Blum. "Sie rufen dann, dass man das nicht sagen darf und damit aufhören soll."

Soziale Verantwortung spielt eine große Rolle

Das Stück führt demnach nicht nur die Schüler des Gymnasiums in eine für sie teils unbekannte Welt ein, sondern bietet auch den Gäste eine neue Erfahrung: "Wir wollen keine Angst haben und mitmachen", sagt ein junger Mann. "Hier macht es immer Spaß und es ist lustig", bekräftigt eine junge Frau, die ebenfalls als Gast dabei ist.

Bei den Proben geht es dann meist sehr unbefangen und wild zu. Seit Martin Blum Schüler mit Behinderung in seiner Theatergruppe hat, knirscht es weniger innerhalb der Gruppe und die Proben laufen harmonischer ab: "Das Gefühl der sozialen Verantwortung ist viel größer, da Menschen dabei sind, die wirklich auf Unterstützung angewiesen sind", sagt er. Daher bilden immer ein Schüler des Gymnasiums und ein Gast aus der Werkstatt ein Team.

Damit die Hemmungen fallen, wurden in den ersten Wochen viele Vertrauensspiele gespielt. "Unsere Gäste haben ein großes Mitteilungsbedürfnis, oft wird es mal laut oder sie kommen einem schnell sehr nahe", erzählt Blum. "Viele haben ein wahnsinniges Bedürfnis nach Körperlichkeit, was ja sonst oft in ihrem Leben fehlt." Daran mussten sich die anderen Schüler erst gewöhnen.

Die Rollen des Theaterstückes sind bewusst innerhalb der Teams aufgeteilt. Größere Textrollen liegen hauptsächlich bei den Schülern ohne Behinderung, da ihnen das Einprägen von Texten viel leichter fällt. "Es darf aber immer jeder mitreden und auch reinrufen", sagt Blum. Für die Gäste mit Behinderung ist jedoch Bewegung besonders wichtig, in einigen Szenen wird daher ausgelassen durch den Raum getanzt.

Boogie, Tango, schwungvolle Handbewegungen

Beispielsweise spielt die Band in einer Szene fröhliche Musik und pausiert an bestimmten Stellen, damit ein Sprechchor einsetzen kann. Während die Musik spielt, tanzen alle wild durch den Saal. Ein Schüler schwingt dabei die Beine wie bei einem Boogie, ein anderer tänzelt mit Tangoschritten und schwungvollen Handbewegungen von vorn nach hinten. Verstummt die Musik, erstarren auch die Schüler - das ist zumindest der Plan. Manch ein Bein wackelt aber und immer wieder ist ein Kichern zu hören.

Michael Blum weiß, dass das Innehalten mitten im Tanz und besonders das Erstarren in oft grotesken Haltungen nicht leicht für seine Gäste ist. Mit Humor und Geduld erklärt er immer wieder, worum es geht: "Es ist praktisch wie bei der Eiskönigin", ruft er in den Saal. "Wenn sie alle einfrieren und einer sich bewegt, dann gibt es eine Frostbeule!" Oft sei die Disziplin die größte Herausforderung während der Proben, die Balance zwischen Offenheit, Freundlichkeit und Zielstrebigkeit sei dabei schwerzu halten.

Der Sinn und Zweck? Den Horizont erweitern!

Seitdem sich die Theatergruppe um die Gäste aus der Behindertenwerkstätte erweitert hat, proben sie nur noch für eine anstatt wie üblich für drei Stunden, da die Anstrengung sonst für die Schauspieler mit Behinderung zu groß werden würde. Auch liegt der Fokus weniger auf der Theaterausbildung. Der Sinn und auch der Erfolg des Projekts "Inklusives Theater" liegt nämlich in einem anderen Aspekt - der Horizont der Teilnehmer soll erweitert werden. Und dies scheint gelungen zu sein. Auf die Frage, was denn die Kernaussage des Stückes sei, sind sich die Schüler einig: Anders sein ist schön.

Das Stück "Geheimnisse im Kopf" wird am Mittwoch, 16. März, und Donnerstag, 17. März, von jeweils 18.30 Uhr an im Jugendzentrum Gleis 1 am Hollerner Weg 1 in Unterschleißheim aufgeführt. Der Eintritt kostet fünf Euro inklusive Getränk.

© SZ vom 16.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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