Krabbelgruppe für behinderte Kinder:Gemeinsam in einer anderen Welt

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Spielzeit: Die Kinder gehen ungezwungen miteinander um, und es finden Eltern zusammen, die ähnliche Themen bewegen. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Im Familienzentrum der Unterschleißheimer Nachbarschaftshilfe gibt es eine Krabbelgruppe für behinderte Kinder. Das Angebot ist sehr gefragt.

Von Alexandra Vettori, Unterschleißheim

Emilia nuckelt versunken an ihrer Apfelschorle, Lenny räumt die Spielekiste aus und Victoria würde am liebsten die Kamera der SZ-Fotografin untersuchen. Die Mütter sitzen am Boden, die Atmosphäre ist entspannt, man plaudert und wischt nebenbei Münder ab, reicht Nuckelflaschen-Nachschub, tröstet - ein ganz normales Krabbelgruppen-Szenario.

Die Gespräche aber drehen sich nicht um den ersten Zahn oder die Frage, wann Schnuller- oder Windel-Entzug eingeleitet werden sollten. Denn die Krabbelgruppe, die sich donnerstags von 16 bis 17 Uhr im Unterschleißheimer Familienzentrum trifft, ist eine besondere. Die Mütter haben andere Themen: Pflegestufe, Therapieerfolge, Anträge und nochmals Anträge. Ihre Kinder sind anders, sie sind in ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung eingeschränkt, durch Gendefekte oder als Folgeschäden von Krankheiten.

Zwischen Arztterminen, Frühförderung und Physiotherapie bleibe wenig Zeit für den Austausch mit anderen Eltern von besonderen Kindern, erzählt Sabine Riedinger. Im vorigen Jahr hat die Mutter aus Unterschleißheim deshalb die Initiative ergriffen.

Solche speziellen Treffs sind rar

Sie fragte beim Familienzentrum nach, ob man nicht eine solche Gruppe anbieten könne. "Es ist eine andere Welt, in der man lebt, wenn sich das Kind abseits der Norm entwickelt. Sorgen und Themen sind auch andere", weiß sie aus Erfahrung. Sabine Riedinger hat neben dem dreijährigen Nesthäkchen Emilia noch zwei weitere Kinder, ohne Behinderungen. "Ich war mit den Großen in einer Krabbelgruppe und ich wollte das auch mit ihr haben", sagt sie. Solche speziellen Treffs sind rar. "Da gibt es im ganzen Münchner Norden nichts, eine Mutter kommt sogar aus Zorneding gefahren", sagt Riedinger.

Isabella Behringer hat auch gesucht, seit sie von Wien nach Unterschleißheim gezogen ist. Zuerst vergeblich im Frühförderzentrum in Feldmoching, bis sie von dem neuen Angebot im Familienzentrum der Nachbarschaftshilfe hörte, seither kommt sie mit ihrem fünfjährigen Sohn Lenny her. "Das habe ich gesucht, man lernt sich sonst ja nicht kennen", sagt sie. Denn Eltern von Kindern mit Behinderungen gehen nur selten auf öffentliche Spielplätze. Warum, erklärt Riedinger mit einem Lächeln: "Meine Tochter würde allen Sand essen, sie kann nicht gehen, nicht krabbeln und nicht schaukeln."

Auch seien die Reaktionen der Eltern von nicht behinderten Kindern oft wenig ermutigend. "Die anderen Kinder fragen einfach, warum kann er nicht sprechen. Die Eltern sind eher das Problem, da wäre es besser, sie würden auch fragen und nicht nur starren", sagt Isabella Behringer. Im Familienzentrum stieß sie auf offene Ohren, im vergangenen Oktober startete Krabbelgruppe Nummer 13 im Haus. "Das war eine wunderbare Idee, denn wir möchten ja ein Zentrum für alle Familien sein", sagt Mitarbeiterin Sophie Kompe. Die Mütter können sich vom offenen Café nebenan Verpflegung holen und ansonsten einfach da sitzen, die Kinder beaufsichtigen und sich austauschen. "Eine Stunde Auszeit in Anführungsstrichen, zumindest eine Stunde, in der ich kein Formular ausfülle, nicht unterwegs bin und keinen Haushalt mache", sagt Sabine Behringer und grinst.

Die Mutter ist auch Therapeutin, Psychologin und Rechtsanwältin

Mütter von besonderen Kindern hätten eben nicht nur die vielfältigen Mutterpflichten zu erledigen, "sie sind auch noch Therapeutin, Psychologin und Rechtsanwältin". Ob die Gruppe den Kindern, die vor allem mit sich und den Spielzeugen viel bringt - die Frage bejahen die Frauen. "Das neue Spielzeug ist spannend", sagt Isabella Behringer. "Und sie beobachten alles durchaus interessiert", fügt Lucia Pisecka hinzu.

Dass es bisher trotzdem nur fünf Krabbelgruppenmitglieder sind, überrascht niemanden. Die meisten Eltern, sagen sie, kämen vor lauter Pflichten gar nicht auf die Idee, sich zusammen zu tun. Dass besondere Kinder nicht nur Last, sondern auch Quell der Freude sind, das brauchen sie sich hier auch nicht immer wieder zu beteuern. Die fröhliche Papa-Begrüßung ihrer vierjährigen Tochter Vicky am Abend, erzählt Lucia Pisecka, sei regelrecht ansteckend. "Diese Energie und der Lebenswille stehen über allem. Das hat sie uns gleich nach der Geburt bewiesen. Nach den zwei Monaten Intensivstation, in denen ihr Leben am seidenen Faden hing, war klar - sie ist gekommen, um Teil unserer Familie zu werden."

Wer Interesse an der Gruppe hat, ist jederzeit willkommen. Weitere Informationen gibt es im Familienzentrum (Telefon 089/370 73 581).

© SZ vom 18.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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