Ottobrunn:Das Innehalten der Ego-Maschinen

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Empathie ist nicht die Leittugend eines Profi-Coaches: Patrick Gabriels Figur gehört als einzige beim verkorksten Seminar diesem Berufsstand nicht an. (Foto: Claus Schunk)

Regisseur Bernd Seidel inszeniert die Farce "Zu spät! Zu spät! Zu spät!" in Ottobrunn als Abrechnung mit der Coaching-Industrie und kritisiert die Floskelhaftigkeit einer Oberflächenkultur.

Von Udo Watter, Ottobrunn

Ob das Kind gewollt war? Natürlich nicht, kommt die abschätzige Antwort. Andererseits: Wegmachen lassen hat sie das kleine Balg auch nicht, für eine Abtreibung hatte die von Sonja Welter gespielte Hochschwangere, ihres Zeichens selbst Coach für Kinder, schlicht keine Zeit, wie sie erklärt. Arzttermine, Untersuchungen - wer als Leistungsträger und Premium-Karrierist oben bleiben will, der darf keine Zeit verschwenden. So gesehen hat es die fünf Protagonisten im Stück "Zu spät! Zu spät! Zu spät!" blöd getroffen. Sie sind hier, alles Profiberater, Vertreter der Coaching-Industrie, um sich weiter zu bilden auf einem Fortbildungsseminar, mitten im Wald, in einem Haus. Doch der Leiter erscheint nicht. Nach kurzem Geplänkel haben die Experten der "Glücksversprechungs-Industrie" genug. Sie wollen heim. Doch die Rückkehr ist nicht möglich, ein umgestürzter Baum versperrt die Straße.

Natürlich ist es jetzt spannend zu sehen, wie die fünf sehr verschiedenen Charaktere in dieser Tragikomödie von Lothar Kittstein auf die existenziell anregende Situation reagieren. Hilft die Erfahrung als Ratgeber, mit dem erzwungenen Stillstand der Zeit auf engem Raum umzugehen? Wie souverän beherrschen sie selbst die Lebenskunst, die sie andere lehren. Oder anderes gesagt, wie viel Substanz steckt in ihr? Solchen und anderen Fragen widmet sich die Produktion der TAT-Kreativ Akademie München, die jetzt unter der Regie von Bernd Seidel am Ottobrunner Wolf-Ferrari-Haus als Premiere zu sehen war. Bald wird klar: Die Coaches, die den Weg zum Glück zu kennen glauben, verlieren ihre Selbstsicherheit, Ängste brechen auf, das Bewusstwerden von Versäumnissen schwebt im Raum. Neben der Figur Sonja Welters gibt es da: Evelyn Plank, eine zynisch-coole Dame, die esoterische Viola von der Burg, die Tarot-Karten legt, Patrick Wolff, der den gestressten und cholerischen Silberrücken-Coach mimt. Patrick Gabriel ist der einzige Nicht-Coach, eine schüchterne Figur, von seiner Frau zum Seminar geschickt, um dort Persönlichkeit und Durchsetzungskraft zu erwerben.

Bernd Seidel, dem Ottobrunner Publikum durch viele und oft gefeierte Inszenierungen vertraut, hält viel von dieser farce-artigen Abrechnung mit der Coaching-Industrie, die große existenzielle Fragen verhandelt: Die Hölle, sind das die anderen? Oder sind es wir selbst? Die Inszenierung kommt ohne großen Bühnen-Schnickschnack aus. Jeder der fünf trägt sein Köfferchen mit sich, eine kubusartige Kiste, die mal als Schlafgelegenheit, mal als Gepäckstück fungiert. Die Requisiten sind minimalistisch-naiv, ein Mond, einige Bäume und eine Leinwand mit verfremdeter Yin-und-Yang-Symbolik. Auch das ständig klingelnde Handy von Wolff sieht man nicht in Natura, es bleibt der Imagination überlassen wie auch die Weingläser oder die Stühle, die für eine Stuhltherapie herhalten müssen. Dieser Minimalismus ist gelungen und ein Kontrast zu den groß aufgeblasenen Floskeln und Egos der Coaches. Auch das ritualisierte Sich-Aufplustern wird zelebriert, mit etwas enervierenden "Huh" und "Hah"-Rufen, gefolgt von einem ins Publikum gewandten gekünsteltem Grinsen. Es geht generell um falsche Bedeutungsschwere, falsche Prioritäten, verschleppte Traumata. Wer Glück formelhaft funktionalisiert, wer Menschen manipuliert, der ist nicht davor gefeit, sich selber zu manipulieren. "Die Welt ist eine einzige organisierte Belästigung" sagt Wolff zwar, kommt aber selber kaum los vom Handy. Welter langweilt sich schnell, sie braucht stets Input. Der Wald? "Eine eintönige Ansammlung von Pflanzen", sagt sie. Als Viola von der Burg, die sich mitunter eier vampirhaften Gestik befleißigt, im Wald verschwindet, will sich keiner um sie kümmern. Einzig Gabriel zeigt kurz so etwas wie Empathie. Seine Figur entwickelt sich, wobei Gabriel das Sensitiv-Schüchterne am Beginn etwas zu sehr betont. Generell überzeugt aber die schauspielerische Leistung des Ensembles, es macht Laune, dem Auf und Ab der Darsteller zu folgen. Das Stück indes will viel und kann nicht alles halten: Die Figuren wirken in ihrer Charakteristik und Abgründigkeit etwas gewollt, daher bleibt auch die dramatische Qualität teils oberflächlich. Schön ist, dass es keine Auflösung gibt - war alles ein Trick, gab es versteckte Kameras? Auch wenn die Protagonisten am Ende auf dem Gewand Buchstaben tragen, also nur Nummern sind, wirkt es versöhnlich. Zu fünft liegen sie da auf einer Kiste, fast wie ein zufriedene Laokoon-Gruppe. Der Wald wird zum Symbol der Geborgenheit, fernab von den Zumutungen der Welt und die Vorstellung, dass eventuell ein Baby hier geboren wird, hat etwas Tröstliches. "Schscht" zischt Evelyn Plank. Kein Ego-Gequatsche mehr, Stille.

"Zu spät! Zu spät! Zu spät!" wird am Freitag, 14. Oktober, im Unterhachinger Kubiz noch einmal gezeigt, die Vorstellung beginnt um 20 Uhr.

© SZ vom 11.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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