Migranten in München (4): Die Gastarbeiter:Fremde Heimat

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Sie sind in den sechziger und siebziger Jahren als Gastarbeiter gekommen und geblieben: Eine Griechin, zwei Türkinnen und ein Italiener erzählen, ob sie sich inzwischen in München heimisch fühlen.

Kathrin Haimerl

München gilt als Vorzeigestadt in Sachen Integration. Das zumindest legt eine Studie des Heidelberger Sinus-Instituts nahe, wonach der Stadt München die Integration weit weniger Probleme bereite als anderen deutschen Städten. Stimmt das? In einer Serielässt sueddeutsche.de Migranten und Experten zu Wort kommen. Im vierten Teil erzählen Migranten der ersten Generation, ob sie sich inzwischen hier in München heimisch fühlen.

1961 kam sie aus Griechenland nach Deutschland, seit 1986 lebt sie hier: Eleni Tsakamaki hat das Schreiben für sich entdeckt, um ihre Erfahrungen in einem fremden Land zu verarbeiten. Im Hintergrund läuft im Rahmen des Projekts der Münchner Kammerspiele ein Ausschnitt aus einem ihrer Theaterstücke. (Foto: Andrea Huber/oh)

I. Die Griechin: Wo das Grab ist

München, Hauptbahnhof, Gleis 11: Es ist die Endstation für die Sonderzüge, die in den sechziger und siebziger Jahren Tausende Gastarbeiter ins Land bringen. Ein Luftschutzbunker unter Gleis 11 wird zur Zwischenunterkunft umfunktionalisiert. Eine Ziffer im Arbeitsvertrag entscheidet bei den Neuankömmlingen darüber, in welche deutsche Stadt die Reise weiterführt.

1961 kommt die Griechin Eleni Delidimitriou Tsakamaki hier an - ein Jahr nachdem die Bundesregierung mit ihrem Heimatland ein Anwerbeabkommen geschlossen hatte. Das Wirtschaftswunderland Deutschland lockt Tsakamaki zusammen mit ihrem Mann in die Bundesrepublik. Die beiden Kinder, zwei und vier Jahre alt, lassen sie in Griechenland zurück. Das Gefühl der zerrissenen Familie, der Trennungsschmerz sollte sich durch ihr gesamtes Leben ziehen. Sie verdrängt ihn zunächst. Ist ja nur für ein Jahr, sagt sie sich.

Ihr Motiv: "Viel arbeiten, Geld verdienen, wieder weggehen", fasst Tsakamaki kurz zusammen, während sie in der Küche in ihrer Münchner Wohnung kochendes Wasser über griechische Bergkräuter gießt.

Tsakamaki arbeitet zunächst in einer Firma im baden-württembergischen Mühlacker. Aus einem Jahr werden zwei, aus zwei Jahren vier. 1965 holt sie die Kinder nach Deutschland.

Eine Existenz auf Zeit: "Dieses Ständige: 'Wir gehen bald wieder, wir gehen bald wieder ...'", sagt Tsakamaki und blickt auf ein Ölgemälde an der Wand, auf dem ein griechischer Sandstrand zu sehen ist. "Das hat unser Leben strapaziert."

Ihre Familiengeschichte hat Tsakamaki bereits mehrfach erzählt: Im Alter von 54 Jahren entdeckt sie das Schreiben für sich. 1993 erscheint ein Buch über ihre Kindheit in Griechenland, wenig später beschreibt sie ihr Leben in Deutschland. Der Titel: Die ewige Suche nach der Heimat.

Wir schleppen unsere Kinder hin und her, unsere Sachen und unsere Ideen. In der Betäubung durch die Arbeit, im Taumel des Überlebenskampfes haben wir es kaum bemerkt, wie die Jahre vorbeigingen: Fabrik, Zuhause, Kinder, Unsicherheit, Ängste, Sparsamkeit.

Tsakamaki schreibt auf Griechisch. Wenn sie Deutsch spricht, ist immer noch ein starker Akzent zu hören. Sie hat die fremde Sprache nach Gefühl gelernt. Mehr als 20 Jahre hat sie in Deutschland in dem Glauben gelebt, in kurzer Zeit würde sie in ihre Heimat zurückkehren. Gleichzeitig hat sie sich immer weiter von ihrer Heimat entfernt. Wenn sie Verwandte und Freunde in Griechenland besucht, heißt es: "Jetzt kommt die Deutsche."

Seit fast 50 Jahren wohnt die Griechin inzwischen in Deutschland. Tatsächlich aber ist Tsakamaki erst 1986 richtig angekommen - auf Drängen ihrer Tochter. Diese fordert einen endgültigen Entschluss: "Mama", habe sie gesagt. "Ich höre immer nur Rückkehr, Rückkehr, Rückkehr. Ich möchte hier studieren, hier sind meine Freunde. Was ist nun mit uns?"

Eleni Tsakamaki bleibt. Inzwischen lebt der Großteil ihrer Familie in dritter Generation in Deutschland, der Sohn hat eine Deutsche geheiratet, die wiederum perfekt Griechisch spricht.

Es war ein langer Weg in die neue Heimat. Aber die Suche hat ein Ende. Geholfen haben ihr dabei zahlreiche Gespräche mit anderen ehemaligen Gastarbeitern. Und sie hat herausgefunden: Die endgültige Antwort auf die Suche nach der Heimat liegt für die erste Migrantengeneration in der Frage, wo sie begraben sein wollen. "Für mich ist klar: in Deutschland", sagt Tsakamaki.

II. Die Türkinnen: Damals im Bunker

Die Frage nach der letzten Ruhestätte trennt diese beiden Frauen: Für Adalet Günel ist es die Türkei. Makbule Kurnaz hingegen hat sich für Deutschland entschieden. Die beiden Türkinnen sind Freundinnen. Regelmäßig treffen sie sich beim deutsch-türkischen Behindertenverein, den Günel gegründet hat. Ihr Sohn leidet an Muskelschwund.

In Deutschland Freundinnen geworden: Adalet Günel, (links im Bild) und Makbule Kurnaz vor dem begehbaren Stadtplan in der Import-Export-Bar in der Goethestraße. (Foto: Robert Haas)

An diesem Tag aber sind sie zusammengekommen, um ihr Theaterstück noch einmal zu besprechen. Das Dokumentarstück Gleis 11 unter der Leitung von Christine Umpfenbach im Rahmen des Projekts Munich Central der Kammerspiele hat die Gastarbeiter zurück an den Ausgangspunkt ihrer Reise gebracht: Den umfunktionierten Luftschutzbunker unter Gleis 11 am Münchner Hauptbahnhof. Zeitzeugen erzählen in dem Stück ihre Geschichte, während die Zuschauer selbst in die Rolle der Gastarbeiter schlüpfen, mit einem Koffer in der Hand im Bunker den Lautsprecheransagen lauschen müssen. Und darauf warten, dass ihre Ziffer im Arbeitsvertrag aufgerufen wird. Mit einem unbekannten Ziel.

Der Bunker unter Gleis 11 ist auch heute noch erhalten. Schutzraum steht an den vier Wänden. Es ist ein kalter, düsterer Raum. Für die Neuankömmlinge, die noch die Strapazen der Reise spüren, ist es der erste Eindruck von Deutschland. Von dem erhofften Luxus im Wirtschaftswunderland ist nichts zu sehen. Adalet Günel sagt: "Ich hatte mir Deutschland als schönen Saal vorgestellt. Stattdessen kam ich in einen Keller. Ich war schockiert."

Für Günel und Kurnaz ist das Theaterstück auch ein Weg, ihre eigene Geschichte aufzuarbeiten. Immer wieder führen sie das Stück in einer eigenen, abgewandelten Version für Freunde und Bekannte auf. Das ist deshalb bemerkenswert, weil Makbule Kurnaz darin eine Türkin aus Anatolien spielt und sich dafür entschieden hat, gängige Klischees zu bedienen: Für ihre Rolle trägt sie ein Kopftuch und einen langen Rock. Sie deutet auf ein Foto, das sie in dieser Verkleidung zeigt und kichert, denn: "Ich habe, als ich hier ankam, gar kein Kopftuch getragen." Im Minirock sei sie gekommen. Beide Frauen sind Muslime. Allerdings nicht streng gläubig.

1961 schloss die Bundesrepublik Deutschland ein Anwerbeabkommen mit der Türkei. Anfang der siebziger Jahre kamen Günel und Kurnaz nach Deutschland.

Da ist also einerseits Makbule Kurnaz, eine resolute Dame, die vieles im Leben pragmatisch anpackt. Unter die pechschwarzen Haare, auf die sie in ihrer Jugend so stolz war, haben sich inzwischen graue gemischt. 1972 war für sie der Weg nach Deutschland ein Schritt der Befreiung. Mehr will sie dazu nicht sagen.

Ihr erster Mann ist in den neunziger Jahren in die Türkei zurückgekehrt. Kurnaz aber ist geblieben. "Das war meine Entscheidung", sagt sie. In München könne sie das Leben einer modernen Frau führen. "Ich fühle mich hier frei. Es ist wie das Paradies."

Ganz anders die Geschichte von Adalet Günel. Die kleine Frau mit den rotblonden Haaren ist notgedrungen nach Deutschland gekommen. Ihre Familie war bereits hier und holte die 18-Jährige 1971 zu sich.

Es fällt ihr schwer, sich in Deutschland einzugewöhnen. Günel ist ein geselliger Mensch. Häufig hat sie Freunde in ihrer Wohnung zu Gast. Von den Nachbarn hagelt es Beschwerden. Schließlich wird ihr die erste eigene Wohnung in München gekündigt. "Die Deutschen sprechen immer von Integration", sagt sie. "Aber überall sehe ich nur Verbotsschilder."

Dann erzählt sie aus der Türkei. Es sind Geschichten in warmer Farbe. Sie spricht von der Herzlichkeit der Türken und davon, dass in ihrem Heimatland die Nachbarn eines der wichtigsten sozialen Netzwerke darstellten.

Günels Eltern sind in den neunziger Jahren in die Türkei zurückgekehrt. Die Tochter hingegen lebt seit fast nunmehr 40 Jahren hier. Günel hält nach dieser Zahl kurz inne. "Hier ist alles okay", sagt sie. Insbesondere auch die ärztliche Versorgung für ihren behinderten Sohn. "Wir sind schon glücklich." Es klingt distanziert. Und dann sagt sie: "Aber irgendwann muss ich zurückkehren."

III. Der Italiener: Wir brachten Kultur

Zurück am Hauptbahnhof. Dort also, wo die Geschichten der ersten Migrantengeneration ihren Anfang nehmen. Auch der Italiener Pier Luigi Sotgiu kam aus Sardinien in einem Sonderzug an Gleis 11 an. Das war 1968. Sotgiu war zu diesem Zeitpunkt 19 Jahre alt. Mittlerweile hat sich der ehemalige Gastarbeiter mit seinem Wissen über Italien selbständig gemacht: Er betreibt das Reisebüro Eurostar am Münchner Hauptbahnhof.

Der 62-Jährige ist Geschäftsmann. Wenn er eine Idee verkaufen will, dann schwingt in seiner Stimme sehr viel Emotion mit, dann rückt der Mann in seinem Schreibtischstuhl ein wenig nach vorne, presst den Daumen an den Mittelfinger und unterstreicht mit seinem Arm seine Worte. Das macht er verstärkt, wenn es um die Interessen der italienischen Gemeinde in München geht.

1955 schließt die Bundesrepublik das Anwerbeabkommen mit Italien. Es ist das erste dieser Art und soll dem Wirtschaftswunderland helfen, fehlende Arbeitskräfte ins Land zu holen. Von 1956 bis 1972 kommen etwa zwei Millionen Italiener in die Bundesrepublik. In München machen sie die Stadt zu dem, wofür sie sich heute preist: die nördlichste Stadt Italiens.

Das wird Pier Luigi Sotgiu nicht müde zu betonen. Es seien die Italiener gewesen, die das Olivenöl nach München gebracht haben, den italienischen Kaffee, verschiedene Nudelsorten, Mode ...: "Die Deutschen haben nicht viel Kultur gehabt", sagt Sotgiu. Klingt hart. Der Italiener lächelt. Trotzdem ist er geblieben. Er habe die Freiheiten und die Chancen in Deutschland schnell zu schätzen gelernt. "Ich habe erkannt: Hier gibt es eine Zukunft."

Zunächst aber habe "eine gewisse Distanz" zwischen den Deutschen und den italienischen Gastarbeitern geherrscht, formuliert es Sotgiu vorsichtig. "Wir waren damals nicht akzeptiert. Wir durften in unserer Wohnung keinen Besuch nach 20 Uhr empfangen. Wir durften nicht mit Knoblauch kochen. Unsere Kinder durften in der Nacht nicht schreien", schildert er die Situation.

Sotgiu arbeitet elf Jahre in einer Instrumentenfabrik in Gräfelfing, wechselt dann für drei Jahre zur Deutschen Post. Anschließend ist er für mehrere Jahre in Augsburg in einem Reisebüro tätig, das Fahrten nach Italien organisiert. Die Arbeit bringt ihn auf seine Geschäftsidee: Er macht sich in München mit einem ebensolchen Reisebüro selbständig und bietet Heimreisen für Gastarbeiter an. Die sogenannten Gastarbeiter-Tickets sind bis zu 30 Prozent billiger als reguläre Fahrkarten.

Früher habe seine Kundschaft daher hauptsächlich aus Italienern bestanden. Heute ist das Verhältnis zwischen Deutschen und Italienern in etwa ausgeglichen. 60 Prozent wählen als Reiseziel Italien, 40 Prozent andere Länder, erzählt Sotgiu.

Und doch: Im Geschäft von Pier Luigi Sotgiu spielen die Gastarbeiter noch immer eine Rolle. Denn Sotgiu kennt die Frage, die seine Generation bewegt - jene nach der letzten Ruhestätte. In seinem Angebot hat er deshalb inzwischen Überführungen nach Italien. Auch er selbst möchte in Italien beerdigt sein: "Nur so haben meine Angehörigen dort Gelegenheit, mein Grab zu besuchen." Gleich im Anschluss kommt wieder der nüchterne Geschäftssinn durch: "Und meine Familie hier kann es mit einem Urlaub in Italien verbinden."

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