Diskussion um Pflege in Unterföhring:Missstände im Altenheim

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Im Dialog: Pflegeexperte Claus Fussek, Bayerns ehemalige Sozialministerin Christa Stewens und Bürgermeister Andreas Kemmelmeyer (von links). (Foto: Robert Haas)

Pflege-Experte Claus Fussek prangert angebliche Missstände im Unterföhringer Seniorenzentrum an und unterstellt dem Bürgermeister Untätigkeit.

Von Vinzenz Neumaier, Unterföhring

So hatte sich Bürgermeister Andreas Kemmelmeyer (Parteifreie Wählerschaft, PWU) seinen Samstagnachmittag sicher nicht vorgestellt. Der Förderverein Soziale Dienste Unterföhring hatte zur Podiumsdiskussion "Würdiges Wohnen im Alter - im Pflegeheim und Zuhause" ins Feringapark-Hotel eingeladen. Dass mehr als 100 Besucher gekommen sind, beweist, wie brandaktuell das Thema Pflege auch im reichen Unterföhring ist. Bürgermeister Kemmelmeyer, Schirmherr der Veranstaltung, durfte sich denn auch einiges an Kritik des renommierten Pflegeexperten Claus Fussek und von Zuhörern anhören. Der Grund: Die angeblichen Missstände im Unterföhringer Seniorenzentrum an der Hofäckerallee 10.

"Das Unterföhringer Haus ist nicht der Leuchtturm der Republik", sagte Fussek in seinem Vortrag. Dafür machte er auch Bürgermeister Kemmelmeyer verantwortlich. Elisabeth Rupprecht vom Förderverein Soziale Dienste prangerte die schlechte Bezahlung der Pflegekräfte im Seniorenzentrum an. Mit derart heftigem Gegenwind hatte Kemmelmeyer offenkundig nicht gerechnet. Als er das Mikrofon in die Hand nahm, rang er erst mal um Worte und versuchte, die Qualität der Pflege in der Gemeinde Unterföhring herauszustellen. Was nicht gelang, den Claus Fussek legte nach: "Da können Sie nicht drauf stolz sein", sagte er.

Die Worte des Pflegekritikers Fussek wurden mit Applaus quittiert, und auch Unmutsäußerungen aus dem Publikum gegenüber dem Bürgermeister waren deutlich zu vernehmen. Auf Nachfrage der Süddeutschen Zeitung verwies Kemmelmeyer auf die Zuständigkeit des Gesetzgebers in Sachen Pflege. "Bei allem, wofür ich zuständig bin, werde ich ein Auge drauf haben." Unterföhring habe in der Vergangenheit bereits 15 Millionen Euro in Wohnanlagen investiert, um diese barrierefrei zu machen. Außerdem gibt es nach den Worten des Rathauschefs ein seniorenpolitisches Konzept in der Gemeinde.

Das ganze System sei einfach "pervers".

Aber nicht nur in Unterföhring gibt es laut Fussek Probleme bei der Betreuung von pflegbedürftigen Menschen, das ganze System Pflege sei einfach "pervers", kritisierte der Experte. Zugverspätungen werden leidenschaftlicher diskutiert als Missstände in der Pflege, sagte Fussek weiter. Dass es Probleme in der Pflege gibt, sei auch nichts Neues. Seit 1987 diskutiert die Gesellschaft schon über die immer gleichen Streitpunkte. Viel getan hat sich seitdem nicht. "Es liegen Menschen in der Scheiße und wir diskutieren darüber, ob Kontrollen in Pflegeheimen wichtig sind oder ob Beobachtungen reichen", sagte Fussek. Pflege sei keine Sache von Gewinn oder Verlust, mit dem Unternehmen Rendite machen können, sondern eine Frage von Menschenrechten, führte der Pflegekritiker weiter aus.

Bei so viel Tumult um Missstände in der Pflege gingen die beiden anderen Referenten, die ehemalige bayerische Sozialministerin Christa Stewens und der ehemalige Landrat von Ebersberg Hans Vollhardt, beinahe unter. Etwa 2,9 Millionen Pflegebedürftige leben aktuell in Deutschland. Etwa zwei Drittel davon werden Zuhause vor allem von Angehörigen gepflegt. Eine riesige Belastung für Familien. Die Alternative Pflegeheim ist auch oft nicht besser. Stewens kritisierte, dass der Pflege-TÜV, ein im Sozialgesetzbuch verankertes Gütekriterium für Pflegeheime, "miserabel" sei. Denn der Durchschnitt zählt beim Pflege-TÜV. Faste jedes Heim habe deshalb einen Schnitt von 2,0 oder 2,1. Aber wie findet man dann ein gutes Heim für sich selbst oder die Eltern? Fusseks Rat ist einfach: "Gehen Sie bei Tag und bei Nacht in die Pflegeheime und schauen sie sich um. Gute Pfleger sehen das nicht als Kontrolle, sondern als Kooperation."

In Ebersberg leben Senioren in einer WG zusammen

Wie Wohnen im Alter gelingen kann, zeigte Hans Vollhardt. Er und seine Frau leben mit sieben weiteren Rentnern in einer Wohngemeinschaft in Ebersberg. 2008 fassten die Rentner den Entschluss, eine Wohngemeinschaft im Alter zu gründen. "Wir wollten anders altern", sagte Vollhardt am Samstag. Das Zusammenleben der Senioren in der WG ist mit einem Vertrag geregelt. Jeder hat seine eigene Wohnung. Im roten Salon, einem Gemeinschaftsraum mit roten Möbeln, treffen sich alle Bewohner, um gemeinsam zu essen und zu diskutieren. Alle Neun unterstützen sich, niemand vereinsamt. "Die kleinen grauen Zellen sind virulenter, als wenn wir alle zu Hause geblieben wären", sagte Vollhardt und warbt für diese Form des Zusammenlebens im Alter.

In der Fragerunde brodelte es im Publikum. Neben der Kritik am Unterföhringer Seniorenzentrum ging es um die im Koalitionsvertrag von SPD und Union vorgesehenen 8000 zusätzlichen Pflegekräfte. Dies reiche hinten und vorne nicht, sagte ein Zuhörer. Da konnte Fussek nur zustimmen.

© SZ vom 12.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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