Bundestagswahl:Arbeitsaufträge an die Berliner Politik

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Die Wahlentscheidung am Sonntag trifft jeder für sich. Der geheimen Wahl gingen intensive Wochen der öffentlichen Debatte voraus. Wer auch immer in Berlin künftig den Wahlkreis München-Land vertreten wird. Er sollte wissen, was die Menschen bewegt. (Foto: Peter Kneffel/dpa)

Personalmangel in der Pflege, Wohnungsnot und Dieselaffäre: Der Wahlkampf hat gezeigt, was die Menschen bewegt. Viele haben konkrete Erwartungen an die nächste Regierung.

Protokolle: F. Bohn, C. Hertel, I. Gnau, L. Hülsmann, B. Lohr

Die Wahlentscheidung am Sonntag trifft jeder für sich. Der geheimen Wahl gingen intensive Wochen der öffentlichen Debatte voraus. Wer auch immer in Berlin künftig den Wahlkreis München-Land vertreten wird. Er sollte wissen, was die Menschen bewegt. (Foto: Peter Kneffel/dpa)

Wenn die Wähler im Landkreis München am Sonntag ihr Kreuz auf einem Wahlzettel machen, erteilen sie den Politikern in Berlin ein Mandat für die nächsten vier Jahre. Sie tun das in der Hoffnung, dass ihre Abgeordneten die Herausforderungen lösen, die sich gerade auch im Münchner Umland stellen. Die SZ bat einige, ihre Erwartungen zu formulieren.

Wohnen

Stefan Wallner, 49, Einrichtungsleiter der Wohnungsnotfallhilfe der Arbeiterwohlfahrt München-Land:

Stefan Wallner fordert bezahlbaren Wohnraum. (Foto: Angelika Bardehle)

"Ich hätte gerne eine bezahlbare Wohnung für jeden hier im Landkreis. Für die, die auf der Straße sitzen und keine Wohnung haben und um die wir uns als Arbeiterwohlfahrt kümmern. Aber auch für die zunehmende Zahl von Menschen, die fürchten, bald auf der Straße zu sitzen, weil sie sich ihre Wohnung nicht mehr leisten können. Dass der Mensch wohnen kann, hat zutiefst mit der Würde des Menschen zu tun, die unantastbar sein sollte. Ich wünsche mir Politiker, Richter und Ordnungsämter, die nicht fragen, ob jemand untergebracht wird, sondern wo! Ich wünsche mir eine Offensive im Wohnungsbau im Landkreis, und zwar im Bau bezahlbarer Wohnungen für alle und nicht länger im unerschwinglichen Luxussegment! Und dieser Bau kann und darf nicht davon abhängen, ob Bürger es erlauben, dass in ihrer Nachbarschaft ein Wohngebäude entsteht."

Geburtshilfe

Christina Göldner, 32, Hebamme aus Taufkirchen:

Christina Göldner hofft auf eine Zukunft für ihren Beruf (Foto: privat)

"Ich arbeite seit zehn Jahren freiberuflich in der Schwangeren- und Wochenbettbetreuung und Stillberatung. Außerklinische Geburtshilfe anzubieten war mir aufgrund der hohen Haftpflichtprämien nicht möglich, die Versicherungskosten für meine Tätigkeitsbereiche liegt bei mittlerweile fast 600 Euro. In der klinischen Geburtshilfe möchte ich aufgrund der dortigen Arbeitsbedingungen nicht arbeiten. Ich bekomme derzeit circa 8,50 Euro Stundenlohn, gemessen am Tätigkeitsbereich, dem Verantwortungsumfang, meiner Ausbildung ist es definitiv nicht genug. Ich erwarte, dass die Politik sich ganz klar in die Verhandlungen zwischen Gesetzlicher Krankenversicherung und Hebammenverbänden einmischt und Stellung zu den Forderungen der Hebammen nach angemessener Vergütung, Anerkennung unserer Kompetenzen rund ums Kinderkriegen und Klärung der Haftungsfrage und Haftpflichtversicherung bezieht. Ich hoffe, dass unsere Situation so verbessert wird, dass wir Hebammen auch in Teilzeit gut und angemessen verdienen, ohne irgendwann ausgebrannt unsere Arbeit niederlegen zu müssen. Das Thema ist komplex, aber eine deutliche Anhebung der Vergütung und die Klärung der Haftpflichtfrage sehe ich als dringend notwendig an. Gesund beginnt im Bauch. Ich glaube, da gibt es noch zu wenig Bewusstsein in unserer Gesellschaft, auch bei Politikern."

Kinderbetreuung

Katja Muhs, 32, leitet seit fünf Jahren den Kindergarten am Mühlbach in Garching:

"Es fehlen an allen Ecken und Enden Fachkräfte. Aber es kann nicht die Lösung sein, jeden, der geradeaus laufen kann, zum Erzieher machen zu wollen. Das Niveau der Ausbildung muss wieder steigen. Es hat einen Grund, dass die Ausbildung fünf Jahre dauert. Ich halte es für falsch, dass sich ein Kinderpfleger innerhalb von kurzer Zeit zu einer sogenannten pädagogischen Fachkraft weiterbilden kann und dann finanziell und von der Verantwortung her einem Erzieher gleichgestellt ist. Kinderpfleger sind Hilfskräfte. Wenn sie plötzlich die Verantwortung für eine ganze Gruppe übernehmen sollen, schafft das nur Probleme im Alltag. Um den Fachkräftemangel zu beseitigen, reicht Geld alleine nicht aus. Die gesellschaftliche Anerkennung für den Beruf muss steigen. Schon die Bezeichnung Erzieher ist total veraltet. Das klingt wie das Fräulein Rottenmeier von Heidi."

Flüchtlingshilfe

Karl Stocker, 69, Diakon in den Pfarrverbänden Vier Brunnen und Ottobrunn, Leiter der Asylhelferkreise Ottobrunn und Putzbrunn:

"Seit fünf Jahren engagieren sich 150 Frauen und Männer ehrenamtlich in den beiden Asylhelferkreisen Ottobrunn und Putzbrunn. Zurzeit betreuen wir - zusammen mit Caritas Alveni - rund 300 Flüchtlinge, die zum großen Teil schon mehrere Jahre in Deutschland sind. Während anfangs die Grundversorgung dieser traumatisierten Menschen im Vordergrund stand, verlagern sich inzwischen unsere Aufgabenschwerpunkte auf die Bereiche Ausbildung, Arbeits- und Wohnungssuche. Dies ist die große Aufgabe der nächsten Jahre. Große Unterstützung finden wir in unserer Integrationsarbeit bei den politischen Gemeinden Ottobrunn und Putzbrunn, der Volkshochschule Südost und sozialen Einrichtungen. Nur gemeinsam können wir diese Aufgaben bewältigen. Dazu brauchen wir natürlich auch den finanziellen und ideellen Beistand der künftigen Bundesregierung. Die große Herausforderung der Zukunft muss für die Politik in der Flüchtlingsfrage allerdings sein, die Situation in den Fluchtländern zu verbessern, damit die Menschen ihre Heimat nicht verlassen müssen."

Pflege

Ines Ambord, 54, Stationsleiterin im evangelischen Pflegezentrum Lore Malsch in Hohenbrunn-Riemerling:

Ines Ambord setzt auf eine Stärkung der Pflegeausbildung (Foto: Claus Schunk)

"Ich würde die künftige Bundeskanzlerin oder den künftigen Bundeskanzler mal gerne drei Tage auf unserer Station mitnehmen. Ich möchte dem Politiker zeigen, wie die Pflegearbeit funktioniert. Er würde sehen, dass die Leute optimal versorgt sind und dass man auf den Einzelnen eingeht. Sie oder er würde aber auch sehen, dass man einen Wahnsinns-Druck hat, bei 25 bis 30 Bewohnern auf einer Station und zwei Pflegekräften im Frühdienst. Grundsätzlich erlebe ich den Pflegeberuf seit Jahren als Mangelberuf. Das ist unserer Politik bekannt. Trotzdem macht sie nichts. Es muss um bessere Bezahlung gehen, um Fort- und Weiterbildung. Wir brauchen qualifiziertes Personal. Heute arbeiten schon zwei Drittel Nicht-Fachkräfte auf den Stationen. Die Politik könnte weiter noch in die Ausbildung investieren und mehr dafür tun, das verzerrtes Bild von dem Beruf in der Öffentlichkeit zu ändern. Der bietet so vieles, vom medizinischen Aspekt bis zur psychosozialen Betreuung. Wir fangen unsere Bewohner auf, wenn sie traurig sind und Ansprache brauchen. Wir vereinigen viele Berufsgruppen in einem."

Dieselaffäre

Georg Schildmann, 68, Nebenerwerbslandwirt aus Aying, der vier Dieselfahrzeuge besitzt:

Georg Schildmann pocht auf eine Umrüstung seiner Autos. (Foto: Claus Schunk)

"Ich fordere von der neuen Bundesregierung Aufklärung, warum die Dieselfahrzeuge so verteufelt werden. Es wird immer von Elektroautos gesprochen, aber wo soll dafür der Strom herkommen? Aus Atomkraftwerken? Ich finde, dass es eine Frechheit ist, dass die Automobilindustrie die Abgaswerte gefälscht hat und die Dieselfahrer das ausbaden müssen. Die Politik muss hier handeln und die Unternehmen dazu zwingen, die Fahrzeuge umzurüsten. Die Dieselaffäre sollte Konsequenzen haben. Ich finde es auch nicht sinnvoll, Dieselautos aus Innenstädten zu verbannen. Leute, die zum Beispiel im Landkreis wohnen und in München einkaufen möchten, haben nicht immer die Möglichkeit, auf den ÖPNV umzusteigen. Bei mir geht es, weil die S-Bahn nur 700 Meter weit weg ist, aber das ist nicht bei jedem so."

Polizei

Martin Kaiser, 40, Gruppenleiter der Polizei im Hachinger Tal aus Oberhaching:

"Die neue Bundesregierung muss die Bundespolizei personell aufstocken. Hier wurde jahrelang eingespart, obwohl die Zahl der Aufgaben immer mehr geworden ist. Wichtig ist außerdem, dass nicht nur die Lücken in der Terrorbekämpfung gefüllt werden, sondern auch mehr Polizisten zur Bewerkstelligung der Alltagskriminalität eingestellt werden. Wenn die Bundesregierung mehr Polizisten einstellt, hoffe ich, dass das ein Vorbild für die Landesregierung Bayern ist. Da unsere Landesregierung aber recht selbstbewusst ist, befürchte ich, dass sie sich davon nicht beeinflussen lassen würde. Ich erwarte außerdem eine generelle politische Rückendeckung für die Polizei. Das hat nachgelassen. Bei den G-20-Protesten hätten Teile der Politik zum Beispiel mehr hinter der Polizei stehen müssen, anstatt den Beamten Fehlverhalten zu unterstellen. Klar ist aber natürlich, dass man Rechtswidrigkeiten untersuchen und kritisch betrachten muss."

Rente

Viktoria Schlammerl, 19, Köchin in Ausbildung aus Ottobrunn:

"Ich habe kein Vertrauen in die Bundesregierung, wenn es um die Rente geht. Deshalb zahle ich zusätzlich in eine private Rentenversicherung ein. Viele junge Leute machen sich keine Gedanken darüber, wie ihre Zukunft im Alter aussieht, das ist einfach noch zu weit weg. Meine Angst davor, dass meine Rente einmal nicht reicht, ist groß, deshalb habe ich mich früh darum gekümmert. Von der neuen Bundesregierung fordere ich, dass die Rentenbeiträge nicht zu stark erhöht werden, damit ich im Hier und Jetzt noch von meinem Gehalt leben kann. Stattdessen sehe ich ein Muss darin, dass man länger arbeitet. Wenn man ehrlich ist, muss man sich eingestehen, dass die Lebenserwartung für meine Generation sehr hoch ist und man auch bei einer Rente mit Ende 60 noch eine lange Zeit im Ruhestand ist. Ich werde mit 60 viel fitter sein als noch meine Großeltern im gleichen Alter. Also bevorzuge ich es, im Alter länger zu arbeiten, als jetzt weniger Geld zur Verfügung zu haben."

Türkeipolitik

Deniz Dadli, 48, leitet das Jugendzentrum Planet O in Oberschleißheim. Mit neun Jahren zog er mit seiner Familie von der Türkei nach Deutschland:

"Es gibt eine Spaltung hier im Land. Nicht nur zwischen Türken und Deutschen, sondern auch innerhalb der türkischen Community. Ich kenne Familien aus Oberschleißheim, die zerstritten sind. Kinder, die nicht mehr mit ihren Eltern sprechen. Damit das überwunden wird, muss die deutsche Regierung eine ehrlichere Politik betreiben. Jeder weiß, dass Erdoğan die Pressefreiheit einschränkt. Aber die Leute wissen zu wenig über die andere Perspektive. Warum ist die Türkei unzufrieden mit Deutschland? Es macht etwas mit den Jugendlichen, wenn sie jeden Tag Erdoğan in den Zeitungen sehen - immer in einem negativen Kontext. Wenn sie jeder Sepp ständig nach Erdoğan fragt. Ich kenne Jugendliche, die in eine richtige Verteidigungshaltung kommen, obwohl sie noch nie in der Türkei waren, obwohl sie einfach nur Fußball spielen und in die Schule gehen wollen. Deshalb hoffe ich sehr, dass sich der Ton der Politiker nach der Wahl ändert."

Energiepolitik

Wolfgang Geisinger, 55, Vorsitzender der Bürgerenergie Unterhaching:

"Die neue Regierung sollte dafür sorgen, dass die dezentralen Akteure der Energiewende, also zum Beispiel die Betreiber von kleineren Solaranlagen, freier vor Ort agieren können. Ein Beispiel aus Unterhaching: Auf einem Grundstück stehen drei Häuser, wobei jedes Haus einen eigenen Anschluss ans öffentliche Stromnetz hat. Zwei haben Solarzellen auf dem Dach und sollen das dritte Haus mitversorgen. Dafür müssen heute Kabel verlegt werden, und das ist teuer. Aber man darf den Strom nicht ins öffentliche Netz einspeisen und ihn fünf Meter weiter an den nächsten Nachbarn verkaufen. So etwas treibt die Stromkosten unnötig hoch, und da muss sich etwas ändern."

© SZ vom 23.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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