Aying:Gerechtigkeit auf dem Land

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In der Uraufführung "Brudermord" hinterfragen der Ayinger Gmoa-Kulturverein und Regisseur Marcus Everding ein starres Gesellschaftssystem an einem historischen Beispiel.

Von Irmengard Gnau, Aying

Was die Schauspieler des Ayinger Gmoa-Kultur-Vereins am Donnerstagabend einem gebannten Premierenpublikum präsentierten, hat sich vor 160 Jahren nur wenige Meter Luftlinie entfernt tatsächlich zugetragen. Im November 1852 schlug Johann Rausch in der Schmiede zu Aying mit einer Mistkralle so heftig auf seinen älteren Bruder ein, dass dieser Tage später an den Verletzungen verstarb.

Belegt ist das Verbrechen in den Akten des Schwurgerichts München, wo Rausch als Mörder verurteilt und im Herbst 1853 schließlich hingerichtet wurde. In akribischer Arbeit hat Michael Wöllinger, Intendant der Ayinger Gmoa Kultur, Informationen gesammelt, sich durch die Akten gelesen und den Brudermord am Ort rekonstruiert. In den Händen von Regisseur Marcus Everding - lange Jahre künstlerischer Leiter der Carl-Orff-Festspiele in Andechs - ist aus dem historischen Stoff ein hintergründiges Sozialdrama geworden, das weit hinter die Fassade eines banalen Gewaltverbrechens blickt.

Dass sich einer nicht an die Ordnung halten will, grenzt an Gotteslästerung

Der Konflikt liegt von Anfang an in der Luft, als Johann (Andreas Eder) nach seiner Schmiedelehre in der Fremde in sein Geburtshaus in Aying zurückkehrt. Dort lebt sein älterer Bruder Joachim (Klaus Mayer) gemeinsam mit dem gesundheitlich bereits geschwächten Vater (Klaus Huber), dem Schmied, Schwester Regina (Dagmar Leiter) und dem Hauspersonal. Die Mutter, offenbar einziges einendes Element der Familie, ist verstorben. Die Rivalität zwischen den ungleichen Brüdern wächst mit jedem Tag, den die Entscheidung des Vaters näher rückt, wen er als Erben einsetzen wird. Johann, der jüngere Sohn, ist geschäftstüchtig und ein geschickter Schmied. Joachim hingegen neigt zur Trunkenheit. Allein, er ist der Ältere, das Erbe steht der gesellschaftlichen Konvention zufolge ihm zu. "S'is, wie's is", wie es der Vater ausdrückt.

Theater
:"Brudermord" in Aying

In der Spielzeit 2016 präsentieren die Ayinger Gmoa Kultur und Regisseur Marcus Everding die Uraufführung von "Brudermord" im Sixthof.

Fotos: Angelika Bardehle

Dass der Jüngere sich dieser Vorentscheidung nicht so einfach beugen will, grenzt in dem Dorf an Gotteslästerung - "Die heilige Ordnung möcht' er durcheinanderbringen", empört sich die Familie. Dabei ist Johann kein Rebell; auch er ist tief geprägt von seiner Sozialisation, verwurzelt in seiner gesellschaftlichen Umgebung, die jedem seine feste Rolle zuschreibt. Er gehört zu den Menschen mit Besitz, quasi zur Mittelschicht auf dem Dorf, steht über Knecht und Mägden. Und doch empfindet er eine tiefe Ungerechtigkeit in der Entscheidung des Vaters. Lange hadert er damit, doch sein Gefühl lässt ihm keine Ruh. Dass es schließlich zum Mordversuch und der Todesfolge kommt, erscheint weniger kaltblütig als vielmehr verzweifelt, ein zorniges Ankämpfen gegen die Regeln - freilich zum eigenen Nutzen.

Vor Gericht finden die Hintergründe der Tat keinen Niederschlag. Johann wird wegen "qualifizierten Mordes" an seinem Bruder zum Tode verurteilt, vor allem aber, weil er sich erdreistet hat, zu "treten, was gesetzt ist". Der Pfarrer, dem sich Johann kurz vor seinem Tod in der Gefangenschaft noch anvertraut hat, geißelt kurz nach der Hinrichtung in einer Rede an die Schaulustigen dessen Tat. Die Moralpredigt - einige Zitate hat Regisseur Everding im Original übernommen - macht deutlich, dass die Dorfgesellschaft keine Freiheitsbestrebungen duldet. Wer aufsässig wird, nicht demütig den ihm zugewiesenen Platz einnimmt, befindet sich geradewegs auf dem Weg in die Hölle. "Es gibt keine Gleichheit", lässt Everding den Pfarrer sagen. "Wollte Gott es anders, wäre es anders."

Erstmals tritt die Ayinger Gmoa Kultur im frisch renovierten Sixthof auf

"Brudermord" lässt spürbar werden, wie sich das Leben auf dem Land in Bayern Mitte des 19. Jahrhunderts angefühlt hat. Die Dialoge, die Everding in Mundart verfasst hat, wirken authentisch, die Laienspieler verkörpern die Zwänge ihrer Figuren eindringlich. Das Ambiente trägt ein Weiteres zur nachhaltigen Wirkung des Stückes bei: Erstmals tritt die Ayinger Gmoa Kultur im frisch renovierten Sixthof auf. Der hölzerne Dachstuhl und die Feuerstelle lassen die Schmiede auf der Bühne lebendig werden. Die Fragen nach Chancen und Gerechtigkeit freilich reichen weit ins heute hinein.

© SZ vom 12.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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