Asylpolitik:Kaum noch neue Flüchtlinge

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Vor drei Jahren trafen jede Woche rund 145 Asylbewerber im Landkreis ein - seit mehr als einem Jahr kommt praktisch keiner mehr. Auch die Zahl der hier Lebenden ist zurückgegangen

Von Christina Hertel, Landkreis

Grasbrunn, Ortsteil Keferloh, September 2015: 700 orangefarbene Pritschen stehen in Tennishallen, darauf liegen Decken, Handtücher, Kissen. Außen stehen in einer langen Reihe blaue Dixie-Klos. Helfer haben das alles in wenigen Stunden aufgebaut, weil am Münchner Hauptbahnhof jeden Tag Hunderte Flüchtlinge ankommen und niemand weiß, wo all diese Menschen schlafen sollen. In Reisebussen karren die Behörden insgesamt 1100 Männer, Frauen und Kinder, die vor Hunger, Armut und Krieg geflohen sind, in die leer stehenden Tennishallen des kleinen Weilers. Helfer sortieren dort sechs Tage lang Kleidung, verteilen Essen, machen Betten, putzen, schaffen Müll weg. Dann bauen sie das Lager wieder ab. Danach seien niemals mehr so viele Flüchtlinge nach Grasbrunn gezogen, sagt Friederike Netter vom örtlichen Asylhelferkreis. Eigentlich komme schon lange praktisch kein einziger Flüchtling mehr an.

Trotzdem streiten CDU und CSU so erbittert über das Thema Asyl wie noch nie. Innenminister Horst Seehofer droht damit, die Bundespolizei Flüchtlinge, die keine Papiere haben oder in anderen Ländern bereits registriert sind, an der Grenze abweisen zu lassen. Kanzlerin Angela Merkel lehnt das kategorisch ab, sucht nach einer europäischen Lösung. Über den Streit droht die Koalition in Berlin zu zerbrechen. Dabei kommen immer weniger Flüchtlinge an: 140 000 Flüchtlinge reisten im Oktober 2015 bei Passau ein. Aktuell wollen nur noch etwa 150 pro Monat dort die deutsch-österreichische Grenze passieren - das sind im Schnitt etwa fünf Personen am Tag. 60 Prozent werden laut Bundespolizei zurückgeschickt, weil sie keinen Grund für ihre Flucht benennen können.

Der Rückgang macht sich auch im Landkreis München bemerkbar: Seit mehr als einem Jahr seien praktisch keine neuen Flüchtlinge mehr auf den Landkreis verteilt worden, sagt Landratsamtssprecherin Christina Walzner. Im Dezember 2015 waren es noch 145 pro Woche. Etwa drei, vier Monate sei das so gegangen - bis die Zahlen plötzlich fielen.

Die Arbeit, sagt Friederike Netter vom Grasbrunner Helferkreis, sei deshalb nicht weniger geworden - im Gegenteil. Sie müsse jetzt zwar keine Kleider und Fahrräder mehr sammeln, dafür die Flüchtlinge dabei unterstützen, Wohnung und Arbeit zu finden. Netter und die anderen Helfer vermitteln Deutsch- und Schwimmkurse, suchen Vereine heraus, übersetzen Formulare, telefonieren mit Ärzten, Jobcenter und Krankenkasse. Vier Familien betreut Netter in Grasbrunn. 20 bis 30 Stunden in der Woche sei sie damit beschäftigt. Viele Helfer hätten ihre Jobs gekündigt, um sich ganz der Arbeit mit den Flüchtlingen zu widmen. Netter arbeitet weiterhin die halbe Woche als Tierärztin. Die andere Hälfte geht sie mit den Flüchtlingen die Post durch, hilft ihnen Möbel abzuholen, berät, welcher Job, welches Praktikum, welche Ausbildung geeignet wäre. Warum sie das tut? "Weil ich möchte, dass die Flüchtlinge irgendwann ein ganz normaler Teil der Gesellschaft werden."

Ähnliches erzählen auch andere Helfer im Landkreis. Thomas Weingärtner, der Vorsitzende des Unterföhringer Asylhelferkreises, sagt: "Die Arbeit hat sich verändert." Statt den deutschen Straßenverkehr zu erklären, hilft er heute, Arbeit zu vermitteln. Und statt vieler junger Männer leben in der Flüchtlingsunterkunft der Gemeinde heute hauptsächlich Familien mit Kindern, denen die Helfer Deutschkurse und Nachhilfeunterricht geben. Neue Flüchtlinge seien auch in Unterföhring schon lange nicht mehr angekommen. Statt 170 würden heute in der Gemeinde vielleicht noch 140 Flüchtlinge leben, sagt Weingärtner.

Tatsächlich gehen die Zahlen der Flüchtlinge, die im Landkreis leben, seit 2016 kontinuierlich zurück: von damals rund 4310 Menschen auf heute 3650. In den vergangenen vier Jahren schloss das Landratsamt 25 große Unterkünfte, also Traglufthallen, Container, Turnhallen und ein Bürogebäude. Auch 51 Häuser, 120 Zimmer in vier Pensionen und ein kleiner Container wurden zurückgegeben. Momentan sind etwa 630 Plätze in Unterkünften nicht besetzt. Gerlinde Reichart vom Kirchheimer Helferkreis sagt, sie mache die politische Lage wütend. Das Gerede von Rückführungszentren und die Debatte, Flüchtlinge an der Grenze abzuweisen, sei nur dem Landtagswahlkampf in Bayern geschuldet. Von den rund hundert Flüchtlingen, die in Kirchheim leben, hätten viele mittlerweile einen Job oder eine Ausbildung: beim Paketdienst, in der Bäckerei, in einer Elektrofirma, als Lagerarbeiter, in der Altenpflege. Im gesamten Landkreis haben seit 2014 fast 500 Flüchtlinge eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit aufgenommen, 70 eine Ausbildung begonnen und 250 eine geringfügige Beschäftigung angefangen. "Natürlich, müssen die Asylverfahren schneller gehen", sagt Reichart. Sie fürchte aber, dass mit dem derzeitigen Kurs viele Erfolge kaputt gemacht würden.

"Nicht die Flüchtlinge sind das Problem, sondern die politische Lage", sagt auch Ingrid Reinhart, die Sprecherin des Grünwalder Helferkreises. "Bei uns ist alles ganz ruhig. Die Grünwalder merken gar nicht mehr, dass Flüchtlinge in der Gemeinde wohnen." Einst lebten in der Kommune 300 Flüchtlinge, heute sind es noch 50. "Heute ist viel mehr Zeit, mit den Flüchtlingen auch mal nette Sachen zu unternehmen." Feste feiern, mal ein Konzert besuchen. Auch die Erfolgserlebnisse seien größer. "Erst vor kurzem konnten wir einer jungen Frau aus Syrien eine Lehrstelle in einer Zahnarztpraxis vermitteln." Es sei schon komisch, meint Reinhart: "Eigentlich funktioniert alles immer besser, nur die Politik verschlechtert sich immer weiter."

© SZ vom 26.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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