Kommentar:Eine tragische Eskalation

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Eine Abrüstung täte dem Hungerstreik der Flüchtlinge am Sendlinger Tor gut. Einfache Antworten gibt es jedenfalls nicht

Von Frank Müller

Viele Wochen lang war das Geschehen am Sendlinger Tor ein entspanntes: Flüchtlinge demonstrierten in einem Camp, die Behörden ließen sie nach dem Motto "Leben und leben lassen" gewähren. Und alle versicherten sich wechselseitig stets, wie professionell und gelassen der Protest doch ablaufe. Die größte Unannehmlichkeit in dieser Zeit war noch, dass Stadtgärtner einen Schwall Wasser über Schlafsäcken niedergehen ließen.

Dem Spätsommer des Happenings folgt der Spätherbst der Anspannung. Es ist eingetreten, was schon seit längerem zu befürchten war, der Protest folgt wieder der Logik der Eskalation. Wenn nun am Sendlinger Tor bei kälter werdenden Temperaturen der Hungerstreik das Geschehen bestimmt, stellen sich Bilder ein, die München nicht noch einmal zu erleben hoffte. Es ist die Wiederkehr der Ereignisse, wie die Stadt sie am Rindermarkt und ebenfalls am Sendlinger-Tor-Platz schon erlebt hat. Menschen, die sich selbst gefährden, andere Menschen, die darauf mit Unverständnis reagieren. Plötzlich wird es kälter, und das Klima wird rauer.

Was not tut in diesen Momenten und was München bislang nicht schlecht geschafft hat, ist Abrüstung, Deeskalation, das Wiederfinden einer gemeinsamen Sprache. Jeder weiß, dass die Forderung nach einem Bleiberecht für alle, die die Flüchtlinge erheben, unerfüllbar ist, auch nicht durch das letztlich erpresserische Instrument eines Hungerstreiks. Aber ebenso klar ist auch, dass die Stadt einer Eskalation im Stadtzentrum nicht tatenlos zusehen kann. Das letzte Mittel ist also der Zwang. Aber vielleicht geht es auch gütlicher.

Für Außenstehende ist es schwer, echte Verzweiflung und organisiertes Spektakel auf dem Platz auseinander zu halten. Manche Nachricht, wie viele Menschen mit dem Krankenwagen abgeholt und in die Klinik gebracht werden mussten, wird von den Organisatoren verbreitet wie eine Erfolgsmeldung. Es ist aber keine, es ist eine Eskalation der Tragik. Einfache Antworten gibt es jedenfalls nicht. Eher schon das Gefühl, dass München solche Ereignisse wohl nicht zum letzten Mal erlebt.

© SZ vom 04.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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