Interview mit Gertraud Burkert:"Ich habe immer noch ein schlechtes Gewissen"

Münchens ehemalige Bürgermeisterin Dr. Gertraud Burkert

Für den Fall, dass sie selbst pflegebedürftig wird, hat die frühere Sozialbürgermeisterin Gertraud Burkert ihren Kindern eine Liste mit Heimen gegeben.

(Foto: Carmen Wolf)

Tagsüber war Gertraud Burkert Bürgermeisterin, nachts sorgte sie für ihre demente Mutter - bis sie einfach nicht mehr konnte. Ein Gespräch über Pflege und außergewöhnliche Belastungen.

Von Sven Loerzer

Mehr als zwölf Jahre lang prägte Gertraud Burkert, 72, außerordentlich engagiert die Sozial- und Schulpolitik Münchens, bevor sie Ende 2005 in den Ruhestand ging. Kurz nachdem die promovierte Germanistin 1993 ihr Amt als Zweite Bürgermeisterin der Landeshauptstadt angetreten hatte, wurde ihre Mutter pflegebedürftig.

SZ: Frau Burkert, wie kam es dazu?

Gertraud Burkert: Meine Mutter lebte allein in ihrer Wohnung und war recht aktiv, bis sie 85 Jahre alt war. Dann setzte eine leichte körperliche Behinderung ein, sie hatte Schmerzen. In der Folge begann auch die geistige Verwirrung. Wir bekamen Angst, denn sie sperrte von innen zu, meinte, Dinge würden ihr gestohlen. Deshalb haben wir sie zu uns genommen.

Das ist ja keine einfache Entscheidung.

Ihr Zustand war zunächst nicht so schlimm. Bei uns zu Hause war es relativ einfach, denn unser Sohn schrieb gerade an seiner Diplomarbeit und war deshalb viel daheim, und mein Mann konnte sich die Zeit einteilen. Die Oma freute sich, wenn sie noch etwas im Haushalt machen konnte. Aber sie brauchte eine gewisse Aufsicht. Nur hat sich der Zustand ziemlich verschlimmert, das war das Problem.

Haben Sie sich Hilfe geholt?

Wir waren zur Untersuchung im Krankenhaus. Die Ärztin sagte zu mir: Ihre Mutter hat Alzheimer, ich wünsche Ihnen nicht, dass sie das Endstadium erreicht, und außerdem sei es erblich. Wir haben dann am Tag eine zusätzliche Pflegerin engagiert, weil mein Sohn und mein Mann nicht immer da sein konnten. Und ich war damals relativ neu in meinem Amt als Bürgermeisterin.

Nach dem anstrengenden Arbeitstag aber gab es keine ruhige Nacht.

Demenzkranke sind oft außerordentlich aktiv in der Nacht. Ich fühlte mich verpflichtet, nachdem ich am Tag wenig Zeit für meine Mutter hatte, mich nachts um sie zu kümmern. Und da kam ich fast ein Jahr lang nachts kaum mehr zum Schlafen. Sie stand immer wieder auf, ich musste sie beruhigen, etwa dass sie nicht kochen muss. Es dauerte, bis sie wieder im Bett war, ich versuchte zu schlafen.

Und dann wieder ein voller Arbeitstag.

Das war nicht einmal das größte Problem. Es war die Persönlichkeitsveränderung. Ich glaube, darunter leidet man viel mehr. Meine Mutter war eine starke, liebenswürdige, freundliche Frau. Sie wurde immer aggressiver, mir so fremd. Es tut einem einfach weh, wenn die eigene Mutter anfängt, Puppen zu füttern.

Wie ist das auszuhalten?

Ich hatte ja noch die Arbeit. Ich bewundere alle Menschen, die tagtäglich, ohne jemals rauszukommen, ihre Angehörigen pflegen und dabei nicht selbst krank werden.

Körperlich wie seelisch zehrt die Situation an den eigenen Kräften.

Ich habe damals Krebs bekommen und musste mich operieren lassen.

Wie haben Sie die Pflege Ihrer Mutter in dieser Zeit sichergestellt?

Ich habe einen Heimplatz gesucht. Als ich nach der Reha wieder nach Hause kam, sagte mein Mann, dann holen wir die Oma zu uns. Da habe ich einfach einen Heulkrampf bekommen. Ich war nicht mehr stark genug dafür. Meine Mutter blieb im Heim, es ging einfach nicht mehr. Aber ich habe deshalb immer noch ein schlechtes Gewissen. Dazu kommt das Gefühl: Ich habe meine Mutter verloren, so wie ich sie früher immer gekannt habe, liebenswert und stark. Sie war weg, ohne gestorben zu sein. Beerdigt habe ich eine mir völlig fremde Frau.

Was raten Sie pflegenden Angehörigen?

Angehörige brauchen wenigstens stundenweise Freiraum, um sich zu erholen. Es tut auch den Pflegebedürftigen gut, wenn ihre Angehörigen durchatmen und Kraft sammeln können. Aber das ist leider eine Frage der Finanzen. Das, was Pflegekassen zahlen, reicht nur für die allernötigste Pflege.

Was müsste sich ändern?

Die Pflegekassen müssten Angehörigen die Möglichkeit geben, wenigstens ab und zu mal rauszukommen, indem sie eine Betreuungskraft finanzieren, wenigstens drei oder vier Stunden pro Woche. Auch das wäre schon eine Entlastung. Niemand will seine Angehörigen ins Heim geben, aber viele können einfach nicht mehr.

Haben Sie für die Pflege vorgesorgt?

Ich möchte nicht, dass mich meine Kinder so verlieren, wie ich meine Mutter. Ich habe ihnen eine Liste der Münchenstift-Häuser gegeben, in welchem Zustand ich in welches Haus möchte, weil die Angebote unterschiedlich sind. Und ich bin froh, dass ich früher als Münchenstift-Aufsichtsratsvorsitzende einiges dafür tun konnte, dass sich heute die Situation dort erheblich besser darstellt als vor 20 Jahren.

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