Integration:Die neue Heimat verstehen

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Die Crashkurse im Münchner Ankunftszentrum sind gut besucht. Flüchtlinge erhalten dabei nicht nur Informationen über Kultur und Werte ihrer neuen Heimat, sondern können auch Fragen stellen. (Foto: Privat)

Flüchtlinge im Münchner Ankunftszentrum erhalten in einem Crashkurs einen ersten Überblick über Kultur und Werte. Den Dozenten machen die Fragen bewusst, dass vieles anderswo nicht selbstverständlich ist

Von Lisa Settari

Fragen über Fragen: "Wie viele Jahreszeiten habt ihr hier?" oder "Wie viele Bäume gibt es in Deutschland?" Solche Fragen hat sich Rolf Zimmer noch nie gestellt. Wie wahrscheinlich die meisten Deutschen. Doch die Geflüchteten, denen er im Münchner Ankunftszentrum für Flüchtlinge Deutschland zu erklären versucht, stellen solche Fragen. Zimmer ist einer der Dozenten für den Kurs "Deutschland verstehen", der von Serena Widmann ins Leben gerufen wurde. "Angefangen hat es damit, dass ich mich mit einer Deutschlandkarte in die Cafeteria der Erstaufnahmeeinrichtung gestellt habe und gesagt habe, ich erzähl euch jetzt mal etwas über Deutschland", erzählt sie.

Die Münchnerin ist bereits seit sechs Jahren in der Flüchtlingshilfe tätig. Serena Widmann gehört zu denen, die freiwillig und mit einfachsten Mitteln Integration konkret mitgestalten. Wie schnell Geflüchtete die Chance bekommen, etwas über ihre potenzielle neue Heimat zu lernen, kann vom Einsatz von Menschen wie ihr abhängen. Über Integrationskurse wird viel geredet. Um das Zusammenleben zu erleichtern, müsse man Neuankömmlingen nicht nur die deutsche Sprache vermitteln, sondern auch deutsche Kultur und Werte. Aber dafür gibt es weder einen bundesweit einheitlichen Lehrplan oder Lehrmaterialien, noch ist es verpflichtend für gerade angekommene Menschen.

Dennoch ist aus dem von Serena Widmann initiierten Kurs ein festes Angebot entstanden. Ein Dozent hält an einem Samstag im Monat einen etwa zwei Stunden langen Deutschland-Crashkurs im Ankunftszentrum für Flüchtlinge in der Lotte-Branz-Straße. Die Menschen, die zum Kurs kommen, sind gerade erst in Deutschland eingereist. Im Kursraum soll die Atmosphäre angenehm locker sein, Eltern bringen manchmal ihre Kinder mit. Natürlich sei es viel Inhalt für so eine kurze Zeit, sagt Widmann. Aber da es sich um ein Angebot für Menschen in einem Erstankunftszentrum handelt, können eben keine Unterrichtsblöcke über mehrere Tage oder Wochen verteilt stattfinden. In so einer Situation ist es unmöglich, überhaupt längerfristig zu planen.

Einer der Dozenten ist Rolf Zimmer, ein ehemaliger Microsoft-Mitarbeiter und persönlicher Bekannter Widmanns. Bis jetzt hat er etwa 15 Einheiten abgehalten, auf Englisch. Auch auf Arabisch und Farsi hat der Kurs schon stattgefunden. Für Rolf Zimmer war diese Aufgabe auch eine durchaus willkommene persönliche Herausforderung, wo sich zeigte, was er eigentlich über das eigene Land aus dem Stegreif erzählen konnte. "Vor allem im Bereich Grundgesetz musste ich selbst einiges nachlesen", erzählt er. In den von ihm gestalteten Einheiten vermittelt Rolf Zimmer die Geschichte Deutschlands seit Ende des Zweiten Weltkriegs, das politische System und gesellschaftliche Normen. Durch das Einsetzen von Bildern oder persönlichen Geschichten versucht er, die Inhalte greifbarer zu machen. Um in wenigen Minuten zu verdeutlichen, wie es im Deutschland der Nachkriegszeit zuging, zeigt er beispielsweise ein Foto, das seine Großeltern, seine Tante und seinen Vater im zerbombten Köln zeigt. Danach Bilder von feiernden Menschen am Brandenburger Tor nach dem Mauerfall. "Ich betone immer, dass die Wiedervereinigung friedlich abgelaufen ist", merkt Zimmer an.

Die Prinzipien der Meinungs- und Pressefreiheit verdeutlicht Zimmer mithilfe der Titelseiten des Spiegel und der Titanic. Zimmer erklärt die deutsche Parteienlandschaft, das Wahlsystem, die Ämter des Präsidenten und der Kanzlerin, die vom Grundgesetz geschützten Freiheiten und Prinzipien wie Gleichberechtigung und das Funktionieren des Sozialstaats. "Viele sind geschockt, wenn sie hören, wie viel vom Gehalt versteuert wird. Aber dann erkläre ich, dass die Steuern in einen großen Topf wandern, und dass damit die unterstützt werden, die Unterstützung brauchen. Dann leuchtet das schon ein", sagt Zimmer.

Der Aufbau der Kurs-Einheiten sei auch flexibel und man orientiere sich an Aktuellem, fügt Serena Widmann hinzu: "Nach dem Vorfall in Köln an Silvester wurde Frauensicherheit mehr thematisiert, im Herbst ist die Bundestagswahl ein großes Thema." Auch wird beispielsweise die deutsche Tugend der Pünktlichkeit beleuchtet. Der Zusammenhang zwischen Zuspätkommen und Unhöflichkeit mag hierzulande offensichtlich scheinen, ist es aber nicht unbedingt für jemanden aus einem anderen Kulturkreis. Rolf Zimmer erklärt das kurz, und plötzlich verstehen die Kursbesuchenden, warum man hier nach dem Minutenzeiger lebt. Bei alldem muss Zimmer immer bedenken, dass im Publikum eine Mischung sitzt aus sehr gut gebildeten Leuten mit ausgezeichneten Englischkenntnissen und solchen, die nur über Grundschulkenntnisse verfügen.

Dass der Kurs beliebt und gefragt ist, bestätigt Elvis, ein junger Verkäufer aus Nigeria, der den Kurs im Oktober 2016 besucht hat, ein paar Monate nach seiner Ankunft. "Vorher wusste ich über Deutschland eigentlich nur, dass es eine dunkle Vergangenheit hat, die mit dem Krieg zu tun hat, und dass dort gute Autos gebaut werden", erzählt er. Sein Vater hatte mal einen weißen VW Käfer und hätte ihn für kein anderes Auto auf der Welt getauscht. Elvis sagt oft "Deutschland", auch wenn er Englisch spricht. Er wäre gerne zu mehreren Einheiten gegangen, um einzelne Themen genauer durchpauken zu können. Besonders im Gedächtnis geblieben seien ihm die Fotos der "witzigen Autos" in der DDR und die Fotos der Trümmerfrauen: "Ich wusste, dass weiße Menschen Frauen respektieren, jetzt verstehe ich besser, warum."

Die Fragen sind laut Zimmer "natürlich das Salz in der Suppe". Er freut sich über jede einzelne, auch wenn es nicht immer ganz einfach ist, die verschiedenen Schattierungen des Englischen zu verstehen. Gerade für Neuangekommene, die sich in den Unterkünften oft schlicht langweilen, sei der Kurs eine willkommene Abwechslung, die sie unterhalte und fordere.

Anna Lehrer von der Georg-Vollmar-Akademie, die das Projekt organisatorisch und finanziell unterstützt, spricht sich für eine Vereinheitlichung und eine weitgehende Verpflichtung für solche Kurse aus. Obwohl sie sich gut vorstellen kann, dass es erst einmal so weiter geht. Rolf Zimmer ist nicht gegen einheitliche Kurse, meint aber, dass eine Zentralisierung die Dinge meist langsamer und weniger flexibel mache und daher nicht unbedingt geeignet sei in diesem Fall. Trotzdem würde er sich über Unterstützung freuen, wenn es um Rechtsfragen geht, gerne auch von offizieller Seite. Er sei eben kein Experte auf dem Gebiet, aber gerade Fragen zum Asyl- oder Arbeitsrecht würden den Menschen "selbstverständlich unter den Nägeln brennen". Durch seine Lehrtätigkeit hat er aber auch selbst viel über sein Land gelernt. Das hat seine Lebenseinstellung verändert: Es hat ihn demütiger und dankbarer gemacht, weil einem bewusst wird, was in Deutschland alles als selbstverständlich angesehen wird. Sauberes Trinkwasser aus Wasserhähnen zum Beispiel.

© SZ vom 07.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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