Helfer vom Hauptbahnhof:"Ja, ich kann ein kleines bisschen die Welt verändern"

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7000 Münchner waren zur Stelle, als vor einem Jahr die Flüchtlingszüge anrollten. Die Helfer haben das Bild der Stadt verändert - und oft auch ihr eigenes Leben.

Von Thomas Anlauf

Die Bilder sind noch im Kopf, auch ein Jahr danach. "Die Halle war voll mit Bierbänken, Carepaketen und vor allem mit Menschen", erinnert sich Marina Lessig. "Wer von den Gleisen kam, wurde von uns Helfern versorgt - mit Essen, Kleidung, Wasser und vielleicht den ersten Schuhen seit der Türkei." Die junge Frau war am 1. September 2015 eine der ersten Münchnerinnen, die erst vor, dann später im Starnberger Flügelbahnhof eine Hilfsaktion für Zehntausende Flüchtlinge starteten, die dort freiwillig und ehrenamtlich drei Wochen lang Tag und Nacht Essen, Trost und ein Lachen spendeten, um den von der langen Flucht erschöpften und oft auch verstörten Menschen zu zeigen: "Ihr seid angekommen!"

Ein Jahr später steht Marina Lessig wieder vor dem Eingang des Starnberger Flügelbahnhofs und hält ein Mikrofon in der Hand. Gemeinsam mit Dutzenden der insgesamt 7000 weiteren freiwilligen Helfer wollte sie mit einer Demonstration am Samstag die Bilder wieder wachrufen, die im September um die Welt gingen. Menschen aus allen Bevölkerungsschichten kamen spontan zum Hauptbahnhof, um Spenden abzugeben, um Kleidung und Essen zu verteilen.

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Die Ehrenamtlichen der Volxküche lieferten von 1. September an veganes Essen an den Hauptbahnhof, später waren sie wochenlang 24 Stunden am Tag in der Notaufnahme an der Richelstraße im Einsatz. Ständig stand ein Pool von Tausenden Ehrenamtlichen bereit, um Aufgaben zu übernehmen, die der Freistaat, die Stadt und nicht einmal die Feuerwehr so schnell und effizient hätten übernehmen können. Sobald sich über die sozialen Netzwerke herumsprach, dass irgendwo in der Stadt bald eine neue Notunterkunft öffnen würde, waren nach wenigen Minuten Dutzende Helfer zur Stelle, um anzupacken, Schlafsäcke und Isomatten zu verteilen, Feldbetten aufzubauen.

Hunderte Flüchtlinge, die nachts ankamen, wurden von Ehrenamtlichen zu Fuß, eskortiert von der Polizei, in nahe Notunterkünfte gebracht. "Hier waren 7000 freiwillige Helfer, die sich völlig selbst organisiert haben - das hätten wir gar nicht leisten können", sagt Thomas Köstler von der Branddirektion. Dass in München die Aufnahme von 150 000 Flüchtlingen innerhalb weniger Wochen so gut gelang, war vor allem den Freiwilligen zu verdanken. Aus den Erfahrungen von München hat die Feuerwehr in ganz Deutschland gelernt.

Die Münchner Branddirektion hat nach den September-Erlebnissen ein bundesweit gültiges Thesenpapier erarbeitet, wonach bei künftigen Ereignissen wie in München die Hilfe aus der Bevölkerung eine wichtige Säule in der Krisenarbeit sein soll. Was die Münchner vor einem Jahr geleistet haben, wissen die Helfer: "Wir haben extrem viel Arbeit übernommen vom Staat", sagt ein Mitarbeiter der Volxküche. Auch Marina Lessig meint: "Das Ehrenamt kann nicht ersetzt werden." Und das, was Tausende im vergangenen September und bis heute geleistet hätten, "dafür können wir uns auch mal auf die Schulter klopfen".

Seit die Balkanroute für Flüchtlinge gesperrt wurde und es das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei gibt, kommen kaum noch Asylbewerber in München an. Die Arbeit der Helfer hat sich seither extrem verändert. Die von der Caritas nahe dem Hauptbahnhof zur Verfügung gestellten Büroräume gibt es nicht mehr, dafür konnte der im Frühjahr gegründete Verein "Münchner Freiwillige - Wir helfen" in noch größere Räume an der Tumblinger-straße einziehen.

Aktuell wird nach Spielplatzpaten gesucht

Dort koordinieren Marina Lessig als Vereinsvorsitzende und ihr Team die ehrenamtliche Hilfe für Flüchtlinge in München. Schulungen werden finanziert, es gibt einen Transporter, der kostenlos ausgeliehen werden kann, um beim Umzug in eine Wohnung zu helfen. Es gibt ein Projekt, um Wohnungen für Geflüchtete zu finden, das Projekt Kochjurte geht mit einer mobilen Küche in Unterkünfte, wo gemeinsam mit Asylbewerbern landestypisch gekocht wird. Aktuell wollen die Freiwilligen Spielplatzpaten gewinnen - Eltern in Elternzeit oder Großeltern, die mit Müttern und Kindern mit Migrationshintergrund Spielplätze besuchen und dort Tipps für den Alltag in München geben.

"Es geht jetzt um Integrationsarbeit", sagt Colin Turner. Auch er ist eines der Gesichter vom Hauptbahnhof im vergangenen September. Drei Wochen lang half er im Organisationsteam der freiwilligen Helfer mit, sieben Tage die Woche, 18 Stunden täglich. Damals nahm er sich spontan frei von seiner Arbeit im Büro einer Bundestagsabgeordneten und fuhr zum Hauptbahnhof. Sogar seine Flitterwochen ließ er ausfallen, um zu helfen, wo er konnte.

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Von Thomas Anlauf

Die Arbeit damals hat ihn nachhaltig geprägt. "Klar kommt man irgendwann wieder im Alltag an. Aber ein Zurück gibt es nicht mehr." Für viele der Helfer hat sich das Leben sogar grundlegend geändert: Sie arbeiten nun hauptberuflich in der Flüchtlingshilfe. Ein Jahr nach den Bildern vom Hauptbahnhof hat sich München verändert. "Viele Menschen haben festgestellt: Ja, ich kann ein kleines bisschen die Welt verändern", sagt Marina Lessig.

© SZ vom 12.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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