Hasenbergl:In der Zeitkapsel

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Mit sogenannten Zeitboten will Pia Lanzinger Material für eine neue Zeitkapsel sammeln. (Foto: Florian Peljak)

Die Berliner Künstlerin Pia Lanzinger ist im Hasenbergl aufgewachsen. Jetzt will die 56-Jährige gemeinsam mit den Menschen im Viertel Bleibendes schaffen

Von Simon Schramm, Hasenbergl

Es war der 30. Oktober 2013, als sich in der Abenddämmerung Jungs aus dem Hasenbergl in Zweierreihen vor dem Kulturzentrum 2411 positionierten und die Glasfenster mit Eiern bewarfen. "Das war fast schon gespenstisch", sagt Birgit Bestehorn, Zeugin des etwas bösen Halloween-Scherzes. "Irreal. Wir haben die Polizei gerufen. Die hat lässig reagiert, die kannten so etwas schon." 2000 Euro hat die Spezialreinigung gekostet. "Im Nachhinein haben wir natürlich gelacht", sagt Bestehorn. Seit 2012 arbeitet sie in der Stadtbibliothek im Kulturzentrum. Ihr gefällt, wie spannend die Arbeit im Vergleich zu anderen Stadtteilen ist. "Ich arbeite sehr gerne hier. Ich finde das Viertel faszinierend, die sozialen und kulturellen Unterschiede, die es hat."

Birgit Bestehorns Halloween-Erlebnis wird für die Nachwelt erhalten bleiben, ebenso wie ihre Liebeserklärung an das Viertel, in dem sie arbeitet und das sie prägt. Als quasi offizielles Dokument, denn sie ist "Zeitbotin" für ein Projekt der Künstlerin Pia Lanzinger geworden, die heute in Berlin lebt, aber im Hasenbergl aufgewachsen ist. Zeitboten nennt Lanzinger, Jahrgang 1960, jene Menschen, die ihr ihre Erlebnisse und Erfahrungen aus dem Viertel schildern. Sie nimmt die Geschichten per Video auf, und sie werden in einer Zeitkapsel für die Nachwelt aufbewahrt. Es hat schon einmal eine Zeitkapsel für das Hasenbergl gegeben. Sie war im Sockel der Pferdeskulptur des Künstlers Alexander Fischer, die heute vor dem Kulturzentrum steht. Die alte, kupferne Dokumenten-Rolle, die Münchens damaliger Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel 1960 in den Grundsteinsockel fasste, ist verloren gegangen.

Damals deponierte man in so eine Zeitkapsel üblicherweise Zeitungen, Geldmünzen und die Baupläne des Viertels. "Relativ anonyme Dinge", sagt Pia Lanzinger. "Da sieht man, was der Gesellschaft wichtig war." Sie hingegen will mit Momentaufnahmen in der neuen Kapsel eine alternative, lebendige Geschichte über das Viertel zusammenstellen. Ein Puzzle aus 56 Jahren Hasenbergl. Jede persönliche Geschichte soll mit einem bestimmten Datum, Tag, Monat oder Jahr verbunden sein, das auf ein T-Shirt gedruckt wird.

Das Projekt ist typisch für Lanzingers Werke, die man am ehesten als Aktionskunst mit einem soziologischen Ansatz beschreiben kann. Sie malt keine Bilder, fertigt selten Objekte. Ihre Arbeit findet meist im öffentlichen Raum statt, sie will immer zusammen mit Menschen agieren, soziale Themen aufnehmen. Zum Beispiel die Gentrifizierung, die auch im vermeintlich günstigen Berlin längst um sich greift, oder die Frage, wie in Architektur und Wohnungsbau ein patriarchalisches Frauenbild reproduziert wird. Ihre Kunst soll dort stattfinden, wo "die Leute wirklich leben". Also nicht auf schmucken Innenstadt-Plätzen, wo sie auf ein saturiertes Publikum trifft.

Nicht immer stößt so ein Kunstansatz auf Verständnis. Der Bezirksausschuss Feldmoching-Hasenbergl etwa hat einen Finanzierungszuschuss für Lanzingers Zeitkapsel-T-Shirts einstimmig abgelehnt. Die Stadtteilpolitiker waren irritiert von Lanzingers Vorhaben, den "ungeplanten Verlauf des Image" des Viertels zu "korrigieren". Wozu brauche das Viertel einen Image-Gewinn? Schade es nicht vielmehr, Vorurteile zu wiederholen? Schließlich sei das Hasenbergl in den vergangenen Jahren stark vorangekommen.

"Das Letzte, was ich will, ist die Stigmatisierung des Viertels zu wiederholen", sagt Lanzinger. Aber es sei nun einmal Teil der Geschichte des Hasenbergls, dass es Probleme gab und gibt. "Das neue Image ist vielleicht noch nicht bei jedem angekommen." Einer ihrer Zeitboten habe die Stigmatisierung des Viertels thematisieren wollen, erzählt sie. Aber gemeinsam habe man ein neues Thema gefunden. Lanzinger will andere Geschichten aus den Leuten herauskitzeln. "Es soll das Alltagsgeschehen im Vordergrund stehen." Einmal war Pia Lanzinger für ein Projekt in Australien. Mit Aborigines hat sie eine vom Sterben bedrohte Sprache neu entdeckt und dokumentiert. Die Menschen hätten durch das Projekt einen neuen Stolz entwickelt, glaubt sie. Ähnliches will sie auch im Hasenbergl erreichen. "Es ist toll, dass es im Viertel dieses irrsinnige Selbstbewusstsein und die Solidarität gibt."

Pia Lanzingers Arbeit im Hasenbergl ist eine Reise in ihre eigene Vergangenheit. Im Gebäude dem Kulturzentrum gegenüber wohnen die Eltern, in der Nähe sind die Wiesen, wo sie zusammen mit ihren Freundinnen vom Hausmeister verscheucht wurde. Und da eben jene Pferdeskulptur, auf der sie als Kind he rumgekraxelt ist. Nach einem Brand 2012 zog das Pferd an einen anderen Standort, bekam einen neuen Sockel, und die alte Zeitkapsel verschwand. Lanzinger las die Nachricht und hatte endlich die zündende Idee für ein schon länger geplantes Projekt über das Hasenbergl. "Erst habe ich an Aufführungen mit Laienschauspielern gedacht. Aber ich will, dass sich viele Leute aktiv beteiligen. Jeder, der einen Bezug zum Hasenbergl hat, soll mitmachen", sagt sie, also auch Nicht-Hasenbergler, Menschen jeder Generation. Ursprünglich wollte Lanzinger die neue Zeitkapsel klassisch vergraben. Nun soll der Behälter ausgestellt werden, vielleicht bei den Hochhäusern am Hügel in der Linkstraße, oder auf dem Dach des Kulturzentrums. In den kommenden Monaten will sie viele Orte im Viertel besuchen, um Zeitboten zu finden. Ein paar hat sie schon: Da sind Bibliothekarin Birgit Bestehorn, oder ein ehemaliger Student der Hochschule für Film und Fernsehen, der in den Achtzigerjahren ein Porträt über einen Hasenbergler gedreht hat. Ende des Jahres, wenn in feierlicher Zeremonie die neue Kapsel vorgestellt wird, hofft Pia Lanzinger, dass ein spezieller Gast vorbeischauen wird: Hans-Jochen Vogel.

Weitere Informationen auf: www.zeitkapsel-hasenbergl.de

© SZ vom 15.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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