Obdachlosigkeit:"Das hat mit Deutschland nichts zu tun, das ist eine andere Welt"

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Rau, aber herzlich geht es zu in der Männer-WG unter der Bahnbrücke. (Foto: Florian Peljak)

So beschreibt ein Obdachloser das Leben auf der Straße. Unterwegs mit zwei Streetworkern, die Wohnungslose an ihren Schlafplätzen in der Stadt besuchen.

Von Anna Hoben

Unter einer Eisenbahnbrücke im Münchner Osten steht ein Couchtisch mit Glasplatte, und irgendwie ist das hier auch eine Art Wohnzimmer. Eine Couch gibt es allerdings nicht, die sechs Männer sitzen auf Steinblöcken um den Tisch herum. Links ein altes Holzhäuschen, auf das jemand "Bleib geschmeidig" gekritzelt hat, rechts ein Typ, der zum Verkehrsrauschen seinen Rausch ausschläft. Christoph Rabas nähert sich. "Darf ich mich zu euch setzen und eine rauchen?" Die Männer nicken und krähen Begrüßungen, die Stimmung wirkt heiter bis übermütig. Hallo, hallöchen, Servus!

Christoph Rabas ist Sozialpädagoge. 53 Jahre alt, Streetworker, seit 28 Jahren auf Münchens Straßen unterwegs, die meiste Zeit für die "Teestube Komm" der Inneren Mission beim Evangelischen Hilfswerk. An diesem Tag hat er seine Kollegin Viola Kaspar mitgebracht, halb so alt wie er, erster Job nach dem Studium der Sozialen Arbeit. Der alte Hase, erfahren und gelassen, und die enthusiastische Berufsanfängerin, zusammen unterwegs. Oft gehen sie früh morgens oder spät abends raus, um die Menschen an den sogenannten Platten, den Schlafplätzen im Stadtgebiet, anzutreffen. Alle Schlafplätze kennen sie aber nicht. "Die sehr guten werden geheim gehalten", sagt Christoph Rabas.

Niemand muss in München auf der Straße leben, die Stadt hat bundesweit das beste Auffangsystem für Wohnungslose. Geschätzt 550 Menschen tun es trotzdem. Wie viele es genau sind, will das Sozialreferat in einer Studie untersuchen. Langfristiges Ziel der Streetwork ist immer die Vermittlung - oder der Erhalt - von Wohnraum.

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Die Sozialarbeiter unterstützen aber auch bei alltagspraktischen Dingen wie dem Ausfüllen von Behördenformularen. Und vor allem hören sie zu. Geschichten von Schicksalsschlägen, Leben, die aus der Bahn geraten sind. Es sei wichtig, nicht zu werten, die Lebenswelt der Menschen zu akzeptieren, sagt Christoph Rabas. Er geht behutsam vor, lässt die Leute erst mal reden, lässt sie Vertrauen zu ihm entwickeln. "Es macht wenig Sinn, da reinzuplatzen und zu fragen: Wer ist obdachlos, wer braucht eine Unterbringung, wer muss einen Antrag auf ALG II stellen?"

Oft reagieren die Streetworker auf Hinweise aus der Bevölkerung. "Es ist nicht so, dass alle weggucken", sagt Viola Kaspar. Die meisten Menschen, die sich bei der Teestube meldeten, seien ehrlich besorgt. Nur manchmal gebe es Leute, die anrufen, weil sie sich gestört fühlen von einem schlimmen Anblick, erzählt Rabas. Wie der Banker, der Protokoll darüber führte, wann er die verhutzelte Frau aus den S-Bahn-Stationen wo gesehen hatte, und der wollte, dass sie aus seinem Stadtbild entfernt wird.

Oder einmal, auf dem Weihnachtsmarkt am Marienplatz. Sie wurden zu einem Mann gerufen, der in der Kälte auf dem Boden saß, offene Wunden an den nackten Beinen. Sie riefen einen Krankenwagen. Als die Sanitäter den Mann über den Platz transportierten, sagte eine Besucherin zu ihrer Begleitung: "Können die das nicht woanders machen? Jetzt schmeckt mir der Glühwein nicht mehr." Der Mann starb später im Krankenhaus.

Vom Sterben sind die Männer unter der Eisenbahnbrücke noch eine ganze Strecke entfernt. Auch wenn Sprüche fallen wie dieser: "Liegen kann ich, wenn ich in der Kiste bin. Und wenn ich so weitermache, bin ich das auch bald." Es herrscht ein rauer und doch herzlicher Ton hier, auf ihre eigene, schräge Art kümmern sich die Männer umeinander. Was ist das für eine Runde? Da ist Jan, Schirmmütze und kratzige Stimme, er sächselt und spricht gern in der dritten Person von sich.

Da ist Michi, dem einige Zähne fehlen und den eine bleierne Traurigkeit umgibt. Schließlich Hans, ein drahtiger Typ, der eine Art trotzigen Optimismus ausstrahlt. "Ich bin Hans und bleib Hans und will nichts anderes mehr werden." Er nennt sich auch "der Papa", mit seinen 58 ist er zehn, fünfzehn Jahre älter als die anderen. In Wirklichkeit tragen die Männer andere Vornamen, zu ihrem Schutz sind sie hier geändert.

Auf dem Tisch stehen Billigbierflaschen und eine leere Schachtel, in der mal kleine Kräuterliköre waren. Es steht auch eine Wasserflasche da, sie gehört Jan, dem Mann mit der Schirmmütze. "Ist aber kein Wasser drin", sagt er und lacht laut auf. Es ist kurz nach halb zwei am Nachmittag, die Sonne scheint.

Jan zieht eine Aktentasche unter dem Tisch hervor, darin befindet sich ein Haufen Papiere in Plastikhüllen. Schreiben von Ämtern, Rechnungen, Mahnungen. Irgendwann hat Jan den Überblick verloren. Bis vor Kurzem wohnte er noch in einem Viererzimmer in einem Wohnheim, irgendwann wollte er nicht mehr hingehen. Die letzte Nacht hat er auf einer Parkbank in Schwabing geschlafen.

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Hans, der in seinem früheren Leben als Speditionskaufmann, Fahrer, Maurer, Schreiner und Florist gearbeitet hat, ist seit 2009 obdachlos. Auch er hat das Wohnheim verlassen. "Ich glaub', jetzt bleib' ich auf der Straße, da geht es mir gut." Später sagt er, man solle dieses Leben mal zwei Wochen ausprobieren. Man werde sich wundern. "Das hat mit Deutschland nichts zu tun, das ist eine andere Welt."

Wie taucht man als Streetworker nach Feierabend wieder auf aus dieser anderen Welt? Wie geht man mit dem menschlichen Elend um? "Das ist oft schwer auszuhalten", sagt Christoph Rabas. "Wenn die Schicksale mich nicht mehr berühren würden, müsste ich kündigen." Als junger Sozialpädagoge ging er im Winter nach der Arbeit in seine warme Wohnung und dachte, "oh Gott, wo gehen die jetzt hin". Die Sicherheit, die er sich über die Jahre erworben hat, hilft ihm. "Ich kenne mein Handwerkszeug, ich weiß, wo ich helfen kann und wann ich nichts mehr tun kann."

Vielleicht erkennt er den jungen Mann, der er war, manchmal in seiner Kollegin wieder. Sie ziehe den Hut, sagt Viola Kaspar am Couchtisch, "ich würde erfrieren im Winter". Zum Glück ist jetzt Sommer. Das macht manches erträglicher. Anderes wird nie erträglich. Irgendwann erzählt Michi der jungen Frau von seinen zwei toten Söhnen. Er weint. Hans weint mit. Sie kann die Tränen gerade noch zurückhalten.

© SZ vom 14.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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