Gedenken der Opfer der NS-"Euthanasie":Probelauf für den Holocaust

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"Durch ein Fenster beobachtete ein Arzt das Sterben der Menschen": 3000 Münchner wurden Opfer der NS-"Euthanasie", Ärzte töteten Patienten durch Mangelernährung. Der Psychiater Michael von Cranach erläutert im SZ-Gespräch die Hintergründe der Krankenmorde, an die jetzt in München erinnert wird.

Von Wolfgang Görl

Am heutigen Freitag wird von 12 bis 15 Uhr auf dem Marienplatz der rund 3000 Münchner Opfer der NS-"Euthanasie" gedacht. Bei der Veranstaltung, deren Schirmherr Oberbürgermeister Christian Ude ist, werden Namen der Getöteten und Dokumente verlesen. Einer der Redner ist Alt-OB Hans-Jochen Vogel. Initiator des Gedenkens ist die Arbeitsgruppe "Psychiatrie und Fürsorge im Nationalsozialismus" in Kooperation mit dem NS-Dokumentationszentrum und dem Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Technischen Universität. Der Psychiater Michael von Cranach, der in der Arbeitsgruppe tätig ist, erläutert die Hintergründe.

SZ: Herr Cranach, was gab den Anstoß für ihre Aktion?

Michael von Cranach: Wir sind vier Leute in der Arbeitsgruppe, und wir bearbeiten dieses Thema im Rahmen des NS-Dokumentationszentrums. Mitglieder sind neben mir die Historikerinnen Annette Eberle und Sibylle von Tiedemann sowie der Medizinhistoriker Gerrit Hohendorf. Wir verfolgen zwei Projekte: Das eine ist ein Zeitzeugenprojekt, und zweitens arbeiten wir an einem Gedenkbuch der Münchner Opfer der Krankenmorde im Nationalsozialismus. Wir versuchen die Namen der Menschen herauszufinden, die damals ermordet wurden.

Was haben Ihre Forschungen über die damaligen Verbrechen ergeben?

Man muss diese Krankenmorde in zwei Phasen aufteilen. Am 1. September 1939, das ist ja auch das Datum des Kriegsanfangs, hat Hitler den sogenannten Euthanasie-Erlass herausgegeben, in dem er Ärzte ermächtigte, schwerkranken Patienten den "Gnadentod" zu geben. Dazu wurde eine Verwaltung in Berlin aufgebaut. Diese Verwaltung ließ für die Patienten von sechs Kliniken Gasräume einrichten, in die man Kohlenmonoxid-Gas einleiten konnte. Dann haben sie Fragebögen an die Kliniken verschickt, in denen es im Wesentlichen um drei Fragen ging: Ist der Patient arbeitsfähig? Ist er arisch? Hat er eine schwere Straftat begangen? Dann haben sie eine Transportgesellschaft gegründet, die die betreffenden Patienten in die Tötungsanstalten brachte. Durch ein Fenster beobachtete ein Arzt das Sterben dieser Menschen.

Und das geschah auch in München?

Der erste Transport überhaupt ging am 18. Januar 1940 mit 25 Patienten von Eglfing-Haar, der Vorgängerklinik des heutigen Krankenhauses Haar, nach Grafeneck. Die Münchner Patienten sind in zwei Vernichtungsanstalten gekommen: Neben Grafeneck in der Schwäbischen Alb gab es noch Hartheim bei Linz. Zwischen diesem Datum und August 1941 sind im Reich mehr als 70.000 Menschen auf diese Weise umgekommen.

Was geschah danach?

Im August 1941 wurde diese Aktion beendet. Das hat verschiedene Gründe. Einer davon war, dass die Bevölkerung dies nicht akzeptiert hat. Es gab punktuellen Widerstand, der berühmteste ist die Rede des Kardinals von Galen in Münster, der von der Kanzel aus die Aktionen als Mord geschildert hat. Außerdem wurden um diese Zeit die Konzentrationslager in Polen geplant. Die Teams der Vernichtungsanstalten sind dann auch in die Konzentrationslager versetzt worden. Historiker sagen, diese erste Euthanasie-Phase sei sozusagen der Probelauf des Holocaust gewesen.

Die Ermordung der Patienten war damit aber nicht beendet?

Nein, jetzt ging das Töten in den Anstalten auf verschiedene Weise weiter. Das eine war der sogenannte Hunger-Erlass des bayerischen Innenministeriums. Den nicht arbeitenden Patienten, die ehedem in die Vernichtungsanstalten gekommen wären, wurde eine Diät aus im Wasser gekochten Kohlstrünken und Kartoffelresten verordnet, die so kalkuliert war, dass die Menschen nach drei, vier Monaten an den Folgen ihrer Schwächung sterben mussten. Diese Hungerkost wurde in unterschiedlicher Weise in bayerischen Kliniken eingeführt. Manche haben das kaum oder halbherzig gemacht. Am schlimmsten aber wurde die Tötung durch Mangelernährung in Kaufbeuren und Eglfing-Haar praktiziert. Hermann Pfannmüller, der Direktor von Eglfing-Haar, hat sogar zwei Hungerhäuser eingerichtet, und man kann an den Gewichtslisten verfolgen, wie die Patienten Woche für Woche abmagerten. Am Ende stand in den Akten: Exitus wegen Lungenentzündung oder Ähnliches.

Zur Verschleierung?

Genau. Und das Zweite war, dass man Kinder, die als behindert gemeldet wurden, in sogenannte Kinderfachabteilungen verlegte. Diese Kinder sind mit Spritzen, mit Morphium und Barbituraten, umgebracht worden. Außerdem gab es noch ein Sonderprogramm für Zwangsarbeiter. Auch unter diesen gab es psychisch Kranke, die mit Spritzen oder in den Hungerhäusern ermordet wurden. Ich gehe davon aus, dass es im Reichsgebiet etwa 250.000 Opfer gab.

© SZ vom 18.01.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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