Flüchtlinge in München:"Sie kam in meine Therapie und ich konnte anfangs nur mit ihr weinen"

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Viele Flüchtlinge, minderjährig oder nicht, bräuchten die Hilfe von Psychologen und Psychiatern. (Foto: dpa)
  • Rund 1000 Flüchtlinge aus Eritrea in Ostafrika leben in München. Viele von ihnen haben eine abenteuerliche Flucht hinter sich.
  • Eritreische Vereine wollen ihre Landsleute nun aufklären, wie sie bei gesundheitlichen Problemen Hilfe erhalten können.
  • Viele Eritreer haben Schwierigkeiten damit, Hilfe anzunehmen. Sie misstrauen dem Gesundheitswesen und halten psychische Kranke mitunter für vom Teufel besessen.

Von Melanie Staudinger

Die Szene erinnert an einschlägige Horrorfilme. Da halten zwei Männer eine Frau fest, ein weiterer kniet auf ihr, fixiert ihren Kopf mit seinen Beinen und schüttet ihr ununterbrochen Wasser ins Gesicht. Überall im Zimmer stehen Jesus- und Marienfiguren, die Frau wehrt sich, hat aber keine Chance. Sie schreit, bis die Nachbarn die Polizei rufen.

Die drei Männer sind sich keiner Schuld bewusst, schließlich wollten sie der psychisch kranken 20-Jährigen nur helfen, den Teufel in ihr austreiben. Passiert ist das alles tatsächlich Ende Juli in einer Münchner Obdachlosenunterkunft. Täter und Opfer stammten aus Eritrea, einem nordostafrikanischem Land, in dem Aberglaube ebenso verbreitet ist wie ein starkes Misstrauen gegen das Gesundheitswesen.

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Ein solcher Fall soll sich nicht wiederholen. Deshalb wollen eritreische Vereine und Verbände in München ihre an die 1000 Landsleute nun aufklären, über die medizinischen Hilfen, die sie bei gesundheitlichen Problemen erhalten können; darüber, dass psychische Erkrankungen nichts mit Besessenheit zu tun haben, und dass man sich nicht schämen muss, wenn es einem nicht gut geht.

Am Wochenende veranstaltete die Community zusammen mit der Katholischen Arbeitnehmerbewegung (KAB) und der Initiative "Interkulturelle Brücken" eine Tagung mit dem Titel "Physische und psychische Gesundheit als Voraussetzung für gelungene Integration". Eingeladen waren Flüchtlingshelfer und Vertreter eritreischer Vereine und Gruppierungen, die ihre Erkenntnisse dann als Multiplikatoren weitergeben sollen.

"Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen sind die häufigsten Erkrankungen weltweit", sagt Zerabruke Gebremriam. Der Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie kam vor 31 Jahren aus Eritrea nach Deutschland. In Berlin kümmert er sich vor allem um Flüchtlinge, die ihre Erfahrungen aus dem autokratischen Eritrea und von ihrer monatelangen Odyssee in ein besseres Leben alleine nicht verarbeiten können.

"Es ist per se schon schwierig in der Fremde", sagt Gebremriam. Wer aus Eritrea komme, der trage ohnehin meist ein Päckchen mit sich. Männer verzweifelten am Militärdienst, der kein Ende nehme. "Sie sitzen jahrelang ohne Perspektive in einer Kaserne, das hinterlässt Spuren", sagt Gebremriam. Andere litten unter dem Regime, seien aus religiösen oder politischen Gründen Verfolgung und Verhaftung ausgesetzt.

Diejenigen, die sich entscheiden zu gehen, haben jedes Vertrauen in staatliche Systeme, auch in das Gesundheitssystem, verloren, erfahren die Münchner Flüchtlingshelfer von Gebremriam. Und dann kommt die Flucht über Äthiopien, den Sudan und Libyen. Junge Menschen werden wie Sklaven von einem Schlepper zum nächsten verkauft, Frauen vergewaltigt, viele sterben auf dem Weg durch die Sahara. Und danach kommt die Überfahrt auf dem Mittelmeer.

Gebremriam berichtet von einem Mann, der zusammen mit 28 anderen überlebte, weil er sich unter dem umgekippten Boot solange über Wasser halten konnte, bis endlich Hilfe kam. Hunderte andere ertranken. Und er erzählt von einer Frau, die acht Monate lang jeden Abend vergewaltigt wurde, bis die Schlepper sie endlich ziehen ließen. "Sie kam in meine Therapie und ich konnte anfangs nur mit ihr weinen", sagt der Arzt.

Viele Eritreer bräuchten dringend Unterstützung

Eritreer würden sich aber auch schwer tun, Hilfe anzunehmen, berichtet Gebremriam. Im ostafrikanischen Land seien psychische Erkrankungen nicht anerkannt, Betroffene gälten als verrückt. Der einzige evangelische Psychiater im Land mit knapp sechs Millionen Einwohnern sitze seit Jahren im Gefängnis, weil das Regime in ihm einen Staatsfeind sehe. Dennoch: Es bestehe akuter Handlungsbedarf, viele Eritreer in München bräuchten dringend Unterstützung.

Das bestätigen auch die Flüchtlingshelfer. 150 Klienten betreue sie, sagt eine Sozialpädagogin. Oft habe sie das Gefühl, die Verantwortung werde auf sie abgeschoben. Denn bei akuten Suizidgedanken müsse schnell eingegriffen werden. Doch in der Realität fehlten Ärzte, mit denen sich Eritreer, die noch keine ausreichenden Deutsch-Kenntnisse haben, verständigen könnten. Bis ein Dolmetscher organisiert und ein Platz gefunden sei, könne es schon zu spät sein.

"Wir hoffen, dass wir mit der Veranstaltung das Bewusstsein für psychische Erkrankungen schärfen können", sagt Heinz Neff, Diözesansekretär im KAB-Diözesanverband München und Freising. Ein erster Erfolg ist den Organisatoren an diesem Samstag bereits gelungen: Sie haben es geschafft, Vertreter von unterschiedlichen eritreischen Gruppierungen zusammenzubringen, Befürworter der eritreischen Regierung ebenso wie deren Kritiker, sunnitische Muslime genauso wie orthodoxe und evangelische Christen. "Wir kümmern uns hier um das Wohlergehen von jedem Einzelnen", sagt Magdi Yacoub von der Initiative "Interkulturelle Brücken". Das allerdings wollen jetzt alle gemeinsam tun.

© SZ vom 04.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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