Englschalking:Ton, Steine, Scherben

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Bei Grabungen auf dem Baugebiet an der Barlowstraße finden sich Gräber, Fundamente und Keramik. Sie zeigen, dass das heutige Englschalking und seine Umgebung bereits in vorgeschichtlicher Zeit ein Siedlungsgebiet war

Von Ulrike Steinbacher, Englschalking

Im Norden des Baugebietes an der Barlowstraße in Englschalking gräbt sich ein großer Bagger in den Boden, Schaufeln mit Kies prasseln auf wartende Muldenkipper. Sein winziges Pendant trägt inzwischen im Süden des Geländes vorsichtig einzelne Erdschichten ab. Der eine Bautrupp hebt die Tiefgarage für vier Wohnblocks aus, die den 140 Mietern im Frühjahr 2018 zur Verfügung stehen soll; der andere sucht währenddessen noch nach Spuren von Menschen, die früher einmal hier gelebt haben - vor 1000 bis 3000 Jahren ungefähr.

Notgrabung nennt man, was die Mitarbeiter der Bamberger Grabungsfirma Reve, Büro für Archäologie, noch bis Mitte August im Auftrag des Bauherrn auf der Baustelle tun. Sie dokumentieren für das Landesamt für Denkmalpflege unter Zeitdruck, was an Funden und Befunden im Boden vorhanden ist, ehe diese unter den neuen Häusern verschwinden. Funde sind bewegliche Gegenstände wie Keramik, Befunde nennen die Wissenschaftler Strukturen alter Siedlungen im Boden, also Mauerreste, Pfostenlöcher oder Abfallgruben. "Wir arbeiten so schnell wie möglich und wissenschaftlich vertretbar", sagt Reve-Mitarbeiter Karsten Brak. Daher kommt der kleine Bagger ebenso zum Einsatz wie Spaten und Hammer. Feines Werkzeug verwenden die Archäologen erst, wenn sie auf "diffizilere Befunde" stoßen.

Dass sich im Boden um den Englschalkinger S-Bahnhof Spuren aus früherer Zeit finden würden, wussten die Wissenschaftler schon, ehe sie am 29. Februar anfingen, den Oberboden abzutragen; es war bekannt, dass das heutige Englschalking und seine Umgebung in vorgeschichtlicher Zeit Siedlungsgebiet war. Der Atlas des Landesamtes für Denkmalpflege schlägt das Areal an der Barlowstraße nördlich der Baustelle einem Gebiet zu, das sich weit nach Osten erstreckt. Dazu ist im Denkmal- Atlas vermerkt: "Körpergräber der frühen Bronzezeit, Brandgräber der Urnenfelderzeit, Siedlung vorgeschichtlicher Zeitstellung, Straßentrasse der römischen Kaiserzeit sowie Siedlung und Reihengräberfeld des frühen Mittelalters."

Schnell wurde klar, dass auch im Untergrund der Baustelle Siedlungsspuren liegen. "Wir haben mit Befunden gerechnet durch die Voruntersuchung", berichtet Matthias Werner von der KVL Bauconsult München GmbH, die für den Bauherrn - die Münchner Höcherl Gruppe, heute H Group - das Projektmanagement übernimmt, "aber dass es in dieser Fläche und Intensität kommt, hätten wir nicht gedacht." Die Sorgenfalte auf seiner Stirn ist tief, schließlich müssen die Bauleute warten, bis die Archäologen fertig sind.

Die wiederum stellten schnell fest, dass im nördlichen und im mittleren Drittel der Baustelle für sie nichts zu holen ist. "Großflächig gestört" seien die Befunde da, sagt Barbara Wührer von der Grabungsfirma. "Bodeneingriffe" der Neuzeit - Keller, Kanäle, Leitungsschächte - haben die alten Strukturen im Norden zerstört, im mittleren Bereich waren es Betonfundamente und Öltanks - "alles was man gern im Boden versenkt", sagt Karsten Brak. Richtung Brodersenstraße aber, wo einmal der südlichste der vier Wohnblocks stehen wird, fanden die Wissenschaftler die vermuteten Siedlungsspuren - aus der Bronzezeit zwischen 1200 und 800 vor Christus, der Hallstattzeit zwischen 800 und 600 vor Christus und dem frühen Mittelalter. Vor- und Frühgeschichtlerin Barbara Wührer, wie alle Wissenschaftler extrem vorsichtig, klingt nahezu enthusiastisch: "In seiner Großflächigkeit" sei dieser Befund "schon was Besonderes".

An Siedlungsbefunden, also Boden-Strukturen, haben die Archäologen unter anderem die Pfostengruben ehemaliger Holzhäuser freigelegt, ein "Umfassungsgräbchen", das keine Verteidigungsanlage war, sondern eher Fundament eines Flechtwerkzauns, einer Einfriedung aus geflochtenen Zweigen, und "eine schöne tiefe Grube", die ein Brunnen gewesen sein könnte. Die Siedlung habe sich vermutlich noch weiter nach Süden ausgedehnt, sagt Wührer. Dort allerdings gibt es dann wieder "großflächige Störungen", die eine Untersuchung verhindern - die Brodersenstraße und die Häuser südlich davon.

Auch Objekte holen die Wissenschaftler aus dem Boden. "99 Prozent Scherben" seien das, sagt Karsten Brak, das meiste davon Alltagsgeschirr, also unverziert und somit zeitlich kaum einzuordnen. Die dunkelbraune Tonscherbe auf seiner Handfläche allerdings hat ein Band aus Einkerbungen. Dass das Material so grob ist, sei ein Hinweis darauf, dass es sehr alt ist: "Das muss man vorsichtig waschen, weil es sein kann, dass es sich sonst auflöst."

Außerdem hat das Grabungsteam zwei frühmittelalterliche Gräber gefunden - das eines Mannes mit einer Eisenschnalle und einem Messer auf dem Oberarm und das einer Frau, die im achten Jahrhundert mit 20 Glasperlen und Körbchenohrringen aus Bronze bestattet wurde. An Gräbern und ähnlichen Funden "ist nichts mehr zu erwarten", betont Brak vorsichtshalber in Richtung möglicher Schatzsucher, die sich nach Englschalking aufmachen und dort die Grabungsstelle zerstören könnten.

Einer der schönsten Funde ist ohnehin schon im Landesamt für Denkmalpflege: sechs dicke, runde Scheiben aus grobem Ton, jede mit einem Loch in der Mitte, die auf den ersten Blick wie zu klein geratene, verschrumpelte Donuts aussehen. Die Archäologen haben sie als mittelalterliche Webgewichte identifiziert, die dazu da waren, am Webstuhl die senkrechten Kettfäden zu spannen, zwischen denen waagrecht die Schussfäden verwebt werden. Gefunden wurden sie in einem Grubenhaus, einem halb im Boden versenkten Werkstattgebäude des Mittelalters.

Nach deutschem Recht gehören solche Artefakte je zur Hälfte dem Finder und dem Eigentümer. Werden die Funde abgetreten, wandern sie als geschichtliche Dokumente in die archäologische Staatssammlung. Grabungsfunde, sagt Karsten Brak, werden "in den allermeisten Fällen archiviert". Doch das Museum kann - davon abgesehen, dass es seit Anfang August für vier Jahre wegen Generalsanierung geschlossen ist - nur einen Bruchteil seiner Schätze zeigen. Die Webgewichte, die so lange in der Erde lagen, werden wohl wieder im Dunkel verschwinden - im Depot.

© SZ vom 10.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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