SZ-Adventskalender:Wie eine bröckelnde Säule

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Seit mehr als 40 Jahren pflegt Angelika Merxmüller aus Frauenneuharting ihre behinderte Tochter. Vor allem im Notfall wüsste sie nicht, was mit Heidi passieren würde

Von Theresa Parstorfer, Frauenneuharting

Heidi geht gerne in die Disco. Das erzählt sie auf die Frage, wie lange sie normalerweise arbeitet. Zumindest ist das Wort "Disco" am deutlichsten zu verstehen, als sie anfängt zu sprechen. "Wenn man die Heidi nicht kennt, ist sie unverständlich. Oft redet sie nur in ihrer Fantasiesprache", erklärt ihre Mutter Angelika Merxmüller. Heidi sitzt in ihrem Rollstuhl im Wohnzimmer ihrer Mutter in Frauenneuharting und knüllt Papier aus dem Altpapiermüll zu sorgfältigen Kügelchen zusammen. Auf dem Esstisch läuft der Fernseher. Das sei ihre häusliche Beschäftigungstherapie, so Angelika Merxmüller. In der Arbeit, in den Werkstätten im Steinhöringer Betreuungszentrum bastelt Heidi Grillanzünder aus Holzstäbchen. Heidi ist 42 Jahre alt. Nicht nur wird für sie Deutsch, ihre Muttersprache, immer bleiben wie eine unbekannte Fremdsprache, zudem hat sie "in ihrem Leben noch keinen Schritt getan", sagt ihre Mutter.

Angelika Merxmüller selbst war 23 Jahre alt, als sie ihre Tochter auf die Welt brachte, in der 27. Schwangerschaftswoche, zwei Monate zu früh. Nach der Geburt durfte sie ihr Baby, dem Schläuche aus dem Kopf ragten, nicht einmal berühren, "die Brutkästen waren noch nicht so schön wie heute". Verstanden habe sie überhaupt nicht, was der junge Assistenzarzt meinte, als er ihr sagte, sie müsse vorsichtig sein, "Heidi sei ein Risikokind." Aber als Heidi auch nach sechs Monaten noch nicht selbst sitzen konnte, spürte Angelika Merxmüller, dass etwas nicht stimmte. Heute weiß sie, dass ihre Tochter aufgrund des Sauerstoffmangels während der frühzeitig eingeleiteten Geburt sowohl eine spastische Lähmung der Hüfte als auch eine geistige Behinderung davongetragen hat. Heute weiß sie auch, dass man vielleicht vieles hätte retten können, hätte man früher etwas unternommen und bessere Therapiemöglichkeiten gehabt.

Extendierung, Operation, wochenlang in einem Gips und das alles an einem Kleinkind - was folgte, klingt nicht nur grausam; nichts davon hat Heidi letztendlich vor einem Leben im Rollstuhl und einem unbewussten Trauma bewahrt. "Noch heute fährt sie schnurstracks davon, wenn sie einen Arzt sieht, und sogar beim Haarewaschen weint sie bitterlich", sagt Angelika Merxmüller. Ansonsten sei ihre Tochter ein geselliger, ein fröhlicher Mensch. Nicht nur Disco finde sie gut, Malen ist eines ihrer liebsten Hobbys. Im Flur hängen einige von Heidis Gemälden. Viel Blau und Lila in breiten, beinahe expressionistisch anmutenden Pinselstrichen, oder auch kleine Buntstiftkreise und Symbole, die ähnlich ihrer Fantasiesprache wohl nur Heidi selbst versteht. Gegenüber der Haustür hängt ein Ölgemälde, das eine junge Frau mit kurzen, dunklen Haaren und großen, dunklen Augen zeigt. "Das war das einzige Mal, dass ich mich an Ölfarben versucht habe", sagt Merxmüller bescheiden. Das Mädchen auf dem Bild stellt Heidi dar, vor mehr als 20 Jahren. Heute sind ihre Haare schon durchsetzt von grauen Strähnen und noch kürzer als auf dem Gemälde. Die Haare ihrer Mutter sind vollständig grau, und wenn Angelika Merxmüller vom Tisch aufsteht, hinkt sie die ersten Schritte. Im vergangenen Jahr musste sie nach einem Sturz am Knie operiert werden.

Dieser Fall ist der Albtraum, der Merxmüller seit Monaten den Schlaf raubt. Der Fall, dass ihr etwas passieren könnte, dass sie ins Krankenhaus muss und dass dann niemand da ist, der sich um Heidi kümmert. Er ist auch ihr Beweis dafür, dass sie wie eine "Säule, die immer alles tragen musste, nun langsam anfängt zu bröckeln". Sie fühlt sich müde und ausgelaugt. Vor vierzig Jahren hat sie ihren Beruf bei der Polizei aufgegeben, wo sie "auch in Uniform ging" und wo ihr "alle Türen offen gestanden hätten", um nicht nur für ihre Tochter zu sorgen, sondern auch für den älteren Bruder ihres Mannes, der schwerer Epileptiker war.

Heidi war das erste Frühförderkind im Betreuungszentrum in Steinhöring und der Schwager der erste Senior. Von Anfang an engagierte sich Merxmüller im Förderverein der Steinhöringer Schule. Als Sekretärin hätte man sie dort auch gerne gehabt, auch nachdem Heidi selbst nicht mehr zur Schule ging, aber zu dieser Zeit wurden auch Merxmüllers Eltern zu Pflegefällen. Also hatte sie auf einmal vier Menschen gleichzeitig zu versorgen. Bis auf Heidi sind mittlerweile alle verstorben. Angelika Merxmüller erinnert sich an viele letzte Worte, zuletzt an die ihres eigenen Mannes, der vor einem Jahr an einer inneren Blutvergiftung starb, nachdem man ihm einen Herzschrittmacher eingesetzt hatte.

Jetzt ist sie alleine mit ihrer Tochter, einem Stapel Akten, Notizen, Verwaltungsaufgaben und einem Herz, das rast und ihr nachts keine Ruhe lässt. Im März wäre der nächst mögliche Termin bei einem Spezialisten frei, um die Ursache des Herzrasens festzustellen. "Bis dahin kann ja alles passieren", sagt sie, und "zu der Zeit ist auch das eine Mietbett im Betreuungszentrum schon belegt". Für dieses Bett müsse man sich lange im Voraus anmelden, aber Merxmüller geht es vor allen Dingen "um den Notfall."

Sie hält einen blau weißen Kugelschreiber in den Händen, mit dem sie zuvor aufgeschriebene Notizen auf einer langen Liste abhakt. Jetzt dreht sie den Stift, bis er am Scharnier auseinanderfällt. Dann schraubt sie ihn wieder zusammen. Es geht ihr um den Notfall, aber ebenso sehr um "Grundsätzliches" im Umgang mit behinderten Menschen. Nicht um sich selbst und auch nicht um Schuldzuweisungen. Doch ein bisschen wundert sie sich schon. "Wieso fühlt sich niemand zuständig? Es müsste doch so etwas wie einen Helferkreis geben, der für alleinerziehende Elternteile wie mich einspringen könnte, wenn ich nicht weiß, wohin mit der Heidi."

Vor vielen Jahren schon hat sie eine Pflegemedaille von Barbara Stamm überreicht bekommen. "Für die leise Pflege im Hintergrund, die niemand so wirklich sieht", sagt sie sachlich. Heute scheint diese Ehrung zusammen mit der immer noch leisen Pflege gar nicht mehr gesehen zu werden. Seit Heidi vor 18 Jahren die Schule verlassen hat, wartet Angelika Merxmüller auf einen Heimplatz. Auch wenn es ihr emotional nicht leicht fallen wird, ihr einziges Kind endgültig in Pflege zu geben, hat sie während des letzten Telefonats mit den Verantwortlichen in Steinhöring gesagt, länger als zwei Jahre könne sie nun nicht mehr warten.

In der Zwischenzeit wäre so etwas wie ein "Hilfs- oder Ergänzungspfleger" gut, sodass sie wüsste, da wäre jemand, den sie im Notfall anrufen könnte. Vielleicht auch, um einmal ein ganzes Wochenende für sich zu haben. So gerne würde sie auch noch reisen in ihrem Leben. Vielleicht nach Amerika. "Früher wollte ich immer nach New York. Heute würde ich lieber die Natur sehen. Den Grand Canyon und so", sagt Merxmüller und lächelt.

© SZ vom 07.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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