SZ-Adventskalender:Am Ende einsam

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Nach einem ereignisreichen Leben mit Höhen und Tiefen sitzt Brigitte S. allein und krank in ihrer Wohnung. Das Geld reicht kaum zum Essen und gar nicht für die Medikamente, die sie braucht

Von Alexandra Leuthner, Poing

Auch in der Nacht benötigt Brigitte S. ein Sauerstoffgerät, weil sie an der Lungenkrankheit COPD leidet. Doch nicht nur die Diagnose macht der 76-Jährigen das Leben schwer. (Foto: Britta Pedersen/dpa)

Den langen Schlauch des Beatmungsgeräts zieht sie immer hinter sich her, ihre Bewegungen sind darauf abgestimmt. Eine schnelle Drehung, eine unbedachte Bewegung des Arms könnte ihr den Schlauch aus der Nase reißen. Ohne den Sauerstoff, den das Gerät in ihre Atemwege pumpt, tut sich die 76-Jährige schwer, genug Luft zu bekommen. Selbst im Schlaf muss sie damit leben, die Treppen in ihre kleine Wohnung im ersten Stock eines Mehrfamilienhauses kommt sie gerade noch so hoch. Bis zur Wohnung ihres Sohns aber, der ganz in der Nähe zu Hause ist aber, schafft sie es nicht mehr. "Er hat sich neue Möbel gekauft und sie mir auf dem Handy gezeigt." In Natura wird sie die Neuanschaffung nie bewundern können. Brigitte S., die eigentlich anders heißt, leidet an COPD, eine chronische Lungenkrankheit, bei der sich die Atemwege zunehmend verengen. In diesem Sommer verursachte die Krankheit einen Krampf, dem sie hilflos ausgeliefert war. Eine Nachbarin fand sie nach Stunden neben ihrem Bett, erst im Krankenhaus kam Brigitte S. wieder zu sich. Doch das ist nicht das einzige Leiden, das die verwitwete Frau mit sich herumschleppt. Eine Krebserkrankung hat sie jahrelang gequält, schien ausgeheilt zu sein, nun muss sie im Januar erneut ins Krankenhaus. Gerade erst ist sie am Rücken operiert worden, sie hat aber so heftige Schmerzen, dass sie nur mit starken Medikamenten und einem Morphiumpflaster leben kann - was bedeutet, dass sie nicht mehr Auto fahren darf. "Aber ich kann die Wohnung ja eh nicht verlassen", ihr letztes Auto hat sie längst verkauft. Schmerzen plagen sie auch ausgehend von ihrem künstlichen Kniegelenk. Allein hier musste sie dreimal operiert werden, weil sich Keime darin festgesetzt hatten.

"Seit meinem 65. Lebensjahr bin ich durch die Hölle gegangen", stellt sie ganz nüchtern fest. Bis zu ihrem 67. Geburtstag aber hat sie trotzdem noch gearbeitet, als Büroleiterin für eine Nachhilfeorganisation. Ihre Mütterrente war da ja schon nicht üppig, ihr Mann, den sie vor 20 Jahren verloren hat, hatte ihr so gut wie nichts hinterlassen, ein bisschen Rente, sonst nichts. Ohne die Grundsicherung, die sie vom Sozialamt bezieht, könnte sie nicht existieren, etwas mehr als 900 Euro hat sie ihm Monat, von denen allein 500 für die Miete drauf gehen. Kaum zu glauben, wenn man hört, was Brigitte S. aus ihrem Leben erzählt.

Gerade mal 20 Jahre alt war sie, gelernte Friseurin, als sie ihren Mann kennenlernte. Ein paar Jahre hatte sie in ihrem Beruf, eines davon in der Schweiz - ein Lächeln überzieht ihr Gesicht, wenn sie daran zurückdenkt, "das war eine schöne Zeit." Schöne Zeiten aber sollte sie noch viele erleben, bevor die Schlimmen kamen. Ihr Mann handelte mit Lastwagen, reparierte und renovierte in einer eigenen Werkstatt in Leipzig, wo er herstammte, später in Hannover. Die Fahrzeuge, LKW und Kleinlaster, verkaufte er nach Istanbul und Teheran, brachte sie selbst in den Iran oder die Türkei und nahm seine junge Frau mit. Die hatte damals gerade erst ein paar Fahrstunden, aber keinen Führerschein, quälte sich am Steuer so eines Riesendings über die Istanbuler Galata-Brücke, wo die türkischen Autofahrer die junge, blonde Frau im Verkehrschaos ausbremsten. "Ich bin dann einfach ausgestiegen und hab den Wagen stehen lassen", erzählt sie, macht eine dramatische Pause - und man kann sich die Szene bildlich vorstellen. Die Fahrlizenz hat sie dann, kaum wieder zu Hause, mit links geschafft, "ich hatte ja Routine."

Doch die unerlaubte Fahrt durch ganz Europa war nicht das einzige, was Brigitte S.' Ehemann im Laufe ihrer Beziehung mehr als leichtsinnig verantwortete. Das viele Geld, das er zeitweise verdiente, gab er eins zu eins wieder aus - mehr noch. Seinen Kindern, zwei Söhne, eine Tochter, hinterließ er Schulden, die einer der Söhne nach dem Tod des Vaters abstottern musste. Ein Haus in Italien, das er nicht bezahlte, eine schöne Wohnung in Spanien, mehrere Wohnwagen, ein luxuriöses Motorboot, fast eine kleine Yacht - alles gewonnen und wieder verloren.

Brigitte S., trotz des offen stehenden Fensters in einem dünnen Kleid und barfuß, holt Fotoalben aus ihrem Schlafzimmer, legt sie auf den Küchentisch. Gepflegte, lackierte Fingernägel an faltigen Händen; sie blättert durch ein Leben, das in der mondänen Mittelmeer-Ambiente der 60er und 70er Jahren spielt, schöne Frauen, elegante Kleider, Palmen unter dem Fenster "und immer der 600er Mercedes vor der Tür." Von einem kleinen Bord über dem Tisch, auf dem ein künstlicher Minichristbaum steht, angelt sie ein Päckchen herunter, in eine vergilbte Tüte gewickelt. Eine kleine Waschmittelpackung. Über dem türkischen Markennamen prangt das Bild eines wunderschönen blonden Mädchens. Die Tüte und das Paket sind ganz offensichtlich ebenso alt wie die Aufnahme von Brigitte S., die als Werbegesicht auf dem vergilbenden Karton zu sehen ist. "Ich bin in einem Café in Istanbul angesprochen worden, dann hab ich mich beworben und sie haben mich als Modell genommen." Monate in Teheran folgten, Filmaufnahmen für einen kleinen Werbefilm. Dann kamen die drei Kinder, das Paar kaufte sich ein Haus im Landkreis München. Lange Jahre ging alles gut. "Ich habe viel gesehen in meinem Leben", sagt Brigitte S.

Doch es gab immer auch schon die andere Seite, Kredite, die ihr Mann nicht begleichen konnte, die 1000 Euro, die er jeden Monat für Lotteriescheine ausgab, die Miete für die gemeinsam Wohnung in Vaterstetten, die er nicht bezahlte bis zur Zwangsräumung und dem Augenblick, in dem die Nachbarskinder auf den in der Straße abgestellten Möbeln herumkletterten, seine nächtlichen Ausflüge in Spielsalons. Brigitte S. aber hielt ihrem Mann immer die Treue, "ich habe ihn ja geliebt."

Jetzt sitzt sie in ihrer Zweizimmerwohnung, die Essenslieferungen von der AWO hat sie gerade abbestellt, "acht Euro pro Tag, kann ich mir nicht leisten." Die Medikamente, die ihr helfen, die Tage und Nächte zu überstehen, fressen die paar Euros auf, die ihr bleiben, wenn sie Miete, Strom, Telefon und Fernsehen bezahlt hat. Ein Zuschuss zu den Arzneimitteln, die ihr die Krankenkasse nicht bezahlt, würde ihr zumindest ein bisschen weiter helfen.

© SZ vom 20.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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