Moosach:Von der Göttin zur Greisin

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In prachtvolle Seide gehüllt und mit der Maske der jungen Frau führt der Nô-Meister Akira Matsui einen Klassiker des japanischen Theaters auf. (Foto: Christian Endt)

Akira Matsui präsentiert im Meta Theater eine packende Nô-Trilogie

Von Rita Baedeker, Moosach

Nach der Vorstellung im Meta Theater Moosach wird Akira Matsui gefragt, ob er den Zuschauern mit einem Wort erklären könne, was "Nô" ist. Mit allem hätte man gerechnet, aber nicht mit der folgenden Antwort: "Wein!", sagt er. Wein? Ja, Wein! Der Meister lächelt und erklärt. Übersetzt hört sich das in etwa so an: Niemand könne sehen, was während des Reifungsprozesses im Fass passiere, wenn aus Rebensaft Wein werde, und doch geschehe dabei so viel. Genauso sei es beim Nô. Es gibt keine sichtbare reale Handlung und dennoch passiert eine Menge.

Zunächst sehen die Zuschauer nur die an die Bühnenwand des Meta Theaters projizierte klassische japanische Kulisse aus wolkenförmig gestalteten Kiefern. Der übliche Chor mit Flöten und Trommeln erklingt vom Band. Auf den Fersen rutschend gleitet Akira Matsui auf die Bühne. Er trägt die weiße Maske der jungen Frau und ein leuchtend rotes Prachtkleid mit zartem Federmuster. "Hagoromo" (Federkleid) heißt das erste Stück der Trilogie, die Matsui an diesem dem Thema Frau gewidmeten Abend tanzen wird. In diesem Fall ist die Frau sogar eine Göttin.

Dieses alte Märchen, das man mit vielen Worten erzählen und ausschmücken könnte, geht so: Während die Göttin badet, finden Fischer ihr Federkleid und wollen es stehlen, besinnen sich aber eines Besseren, als die Göttin verspricht, für sie zu tanzen. Matsui reduziert die Legende auf statische, fast wie in Zeitlupe ablaufende sparsame Bewegungen und Gesten. Den zentralen Momenten der Geschichte verleiht er aber entschieden Gestalt: Zum Schluss etwa reißt Matsui einen Arm hoch, der aus viel Stoff genähte Ärmel fliegt nach hinten, so als habe ihn gerade jemand geworfen: Die Göttin hat ihr Kleid wieder.

Deutlicher verschmelzen Inhalt und Bewegung beim zweiten Stück des Abends, dem 1981 uraufgeführten Einakter "Rockaby", den der irische Schriftsteller Samuel Beckett dem Nô-Theater gewidmet hat. Akira Matsui kombiniert hier auf eindrucksvolle Weise klassisches Nô mit pantomimischen Elementen und modernem Tanz. Als Einstimmung spielt die Pianistin Masako Ohta eine an Liturgie erinnernde Komposition von Toto Takemitsu. Die Schauspielerin und Sängerin Marion Niederländer liest den Text, bei dem einige wenige Zeilen gebetsmühlenartig variiert werden, so eindringlich, dass die Worte wie ein dramatisches Musikstück klingen. Metrum für den Rhythmus der Sprache ist dabei der hin und her wippende Schaukelstuhl, in dem die Mutter der Protagonistin starb, in dem auch die Tochter sterben wird. John, Matsuis Assistent, bewegt das Möbel langsam hin und her.

Akira Matsui trägt jetzt die Maske einer älteren Frau. Das Licht der Scheinwerfer lässt die eingeschnitzten Zeichen und Linien des Alterns deutlich hervortreten. Man kann sich ausmalen, wie geisterhaft diese Masken vor Hunderten von Jahren im flackernden Schein der Öllampen gewirkt haben müssen. Der Nô-Meister verkörpert die Tochter, die gefangen ist in der Welt der Mutter wie unter einem Glassturz. Alle Gefühle, Aufbegehren, Sehnsucht, Verzweiflung und Schicksalsergebenheit, drückt der Meister durch kleine Gesten aus: das Hochziehen des Rollos, der Blick nach draußen. Das Kreuzen der Arme vor der Brust als Zeichen der Abwehr, das Zusammenpressen der Hände, das Erschlaffen des Arms im Moment des Todes, wenn der Schaukelstuhl endlich zum Stehen kommt. Es sind nur wenige Gebärden, aber sie entfalten eine packende Dramatik. Nach Ende des Stücks ist es minutenlang still im Raum. Es sei nicht einfach für ihn gewesen, sich dem Klang des deutschen Textes anzupassen, sagt Matsui hinterher. Er sei mehr an den weicheren und bewegteren Klang des englischen Originals gewohnt. Dennoch ist die Übereinstimmung frappierend.

Als dritten Teil des Abends hat Matsui die Narayama-Lieder gewählt, ein Zyklus, dessen Musik zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand. Ihr Hintergrund ist allerdings viel älter - und sehr grausam. In alter Zeit, so heißt es, seien betagte Menschen zum Sterben auf den Berg Narayama gegangen, wo sie ein Raub der Geier wurden. Akira Matsui tritt auf mit grauer Perücke und der Maske der Greisin. Er trägt einen runden schwarzen Strohhut und geht am Stock, jeder Zoll gram-und gichtgebeugt. Beim Gehen knickt er ein, fast kann man den Schmerz und gleichzeitig die Entschlossenheit der Frau am eigenen Leibe spüren. Die Alte hebt den Stock, tastet sich vorwärts oder richtet ihn gegen einen imaginären Feind. Den Tod? Die Trilogie vom Leben und Sterben der Frau, jetzt ist sie zu Ende.

Masako Ohta spielt und singt dazu ausdrucksstark und doch zurückhaltend die Musik, nachdem Volker Weinberg auf der 13-saitigen japanischen Liegeharfe "Koto" das Publikum mit fremdartigen Klängen aus dem 17. Jahrhundert auf die Aufführung eingestimmt hat. Nur langsam erwacht das Publikum aus einer Art Hypnose, dann gibt es lang anhaltenden Applaus - und das Glas Wein, das Gastgeber Axel Tangerding dem Meister versprochen hat.

© SZ vom 09.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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