Kabarett:Die höhere Etwasigkeit

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Nennt sich selbst einen Kaschperl: Alf Poier im Alten Kino. (Foto: Christian Endt)

Alf Poier fordert das Publikum mit dadaistischer Werkschau

Von Friedhelm Buchenhorst, Ebersberg

Konzentriermäßig hoch gespannt lauschen und erhahahascheln die zuschauerlichen Verhöhrer und zerstörten Zuheerer im völlig voll besetzten Ebersberger Alten Kino den in breitem Austria dargebootenen entleerenden Hervor- und Herausbrechungen des perforierenden Performancers auf der in elektrisches Sternenlicht getauchten Bühne. Wie gebannert heftet sich ihr Blick auf den Mann, der ihnen in meisterhaften Verschwurbelungen und Verzwackungen die zahl- und qualreichen Ungereimtheiten und Unverschämtheiten des Lebens ins Gesicht wirft.

Nahezu pünktlich zum 100. Geburtstag des Dadaismus brillierte der vielfach ausgezeichnete österreichische Kabarettist, Maler, Liedermacher, Museumsgründer und selbsternannte Kaschperl Alf Poier mit seinem Programm "The Making of Dada - eine postvisionär-philosophische Werkschau" auf besagter Bühne.

Im ersten Teil zitiert Poier aus seinen Tagebüchern von der Kindheit bis zum jungen Erwachsenenalter. In eigentümlicher Verquickung von Humor und Lebenstragik referiert er in "Kotzproben" seine erfolglose Odyssee der Selbstfindung bis hin zur totalen Niedergeschlagenheit und völligen Einsamkeit. In unzähligen Jobtätigkeiten und Berufssackgassen, von Fischdosen und Packerlsuppen lebend, sammelt er seine Erfahrungen, stellt die Frage aller Fragen: "Was soll aus mir einmal werden?", und wird - erst einmal nichts. Poier versinkt in Philosophie und Fantasie, träumt von einer Teilnahme am Eurovision Song Contest, will Lehrer werden, bis er die Möwe Jonathan kennenlernt. Künstler, ja, das wär's, das weiß er jetzt, aber damit ist sein Leben auch kompliziert geworden.

Poier zieht einen weiten Bogen von Platon ausgehend, dem Philosophen höchster Vernunft, und landet bei Nietzsche, dem Philosophen des Nihilismus. In einem übermenschlichen Akt befreit er sich von der Vernunft, aber auch aus dem Nichts. Jetzt wird Alf Poier geboren. Auf der Bühne flippt er aus, wälzt sich auf dem Boden und schreit herum, und nicht wenige Besucher zeigen besorgte Gesichter ob der scheinbaren Echtheit des Geschehens. Jetzt ist Poier Dadaist und Kabarettist, jetzt weiß er, was seine Aufgabe in der Welt ist.

Nach der Pause liefert Poier auf der Beamerleinwand seine dadaistische Werkschau. Er zitiert aus seinem Buch "Mein Krampf", das Publikum sieht allerlei "Fotogramme" und zahlreiche Gemälde, Zeichnungen und Objekte, etwa ein gesatteltes Pferd, das als "Sattelschlepper" bezeichnet wird, eine explodierende Katze, Spiegeleierbilder, einen Hut mit Rückspiegel für Leute mit Verfolgungswahn und eine nackte Frau in Kleidern. Poier bedient hier in kreativem Überschwang ein Spektrum von Stilrichtungen, insbesondere Im- und Expressionismus, Kubismus und Surrealismus, und alles typisch dadaistisch-philosophisch hinterfragt und bis ins Lächerliche hinein zersetzt. Seine Deutungen ziehen einen weiten Bogen durch den geistigen Kosmos, er besucht diverse Parallelwelten und landet in der höheren Etwasigkeit. Mit oft überraschenden und zum Nachdenken einladenden Wortschöpfungen und ungewöhnlichen Querverbindungen verblüfft das Multitalent immer wieder. Mit durchschnittlauchtigsten Hinterfotzigkeiten und der Verschriftlichung sich weitgehend entziehenden dadaistischen Sprachverhunzungen und allerlei Laut-, Hauch-, Mimik- und Gestikandeutungen bespielt Poier souverän die Klaviatur des Ausdrucks.

Zwischendurch bringt er immer wieder Lieder, biographisch-textschwere Kompositionen mit gekonntem Gitarrenspiel, die den hintergründigen Ernst seiner Arbeit hervortreten lassen. Geradezu beängstigend ist sein Vergleich der Entstehung des Dadaismus mit der heutigen Zeit der Orientierungslosigkeit und Erschöpfung.

In dieser Liturgie geht es weiter, bis Poier in einem kognitiv-kulminierenden Orgasmus auf die alles umfassende dadaistische Welt- und Erlösungsformel kommt: 15! Aber über diese verrechnende mathematische Mechanikheit hinaus zeigt Poier am Ende die Möwe Jonathan: Der Mensch möge endlich fliegen lernen! Mit diesem wahrlich erhebenden Bild im Kopf sind die Besucher dann glücklich wieder nach Hause in ihre verwanzten Wände geflooohohogen.

© SZ vom 04.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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