Sea Eye:Leben retten im Akkord

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Tobias Vorburg aus Markt Schwaben bewahrte mit der Mannschaft der "Sea Eye" vor der libyschen Küste Hunderte Flüchtlinge vor dem Ertrinken.

Von Korbinian Eisenberger

Das Beiboot schaukelte, die Wellen wurden in den frühen Morgenstunden stärker. Es war ein Tag Ende Juni, und Tobias Vorburg aus Markt Schwaben stand an der Reling und spähte mit dem Fernglas über das Meer. Am Horizont, sagt Vorburg, da konnte er den Streifen der Küste Libyens erkennen, als plötzlich ein Schlauchboot in seinem Blickfeld auftauchte.

Die Gummihülle sei zu zwei Dritteln unter Wasser gewesen, der Schlauch der linken Bootswand war geplatzt. "Die Menschen saßen schon mit dem Hintern im Wasser", sagt Vorburg. Plötzlich habe er einen dunklen Umriss aus dem tiefblauen Meerwasser auftauchen sehen. Für Vorburg sah es wie der Körper eines Menschen aus, der gerade aufgegeben hatte.

Eine Woche ist es her, seit Tobias Vorburg, der Rettungsassistent aus Oberbayern, von seiner Reise an die Mittelmeer-Küste Libyens zurückgekehrt ist. Zuvor hatte der 27-Jährige zwei Wochen auf dem deutschen Rettungsschiff Sea Eye verbracht und mit einem neunköpfigen Freiwilligen-Team Flüchtlinge in Seenot gerettet. Der Verein hinter Sea Eye hat 1050 Menschen gezählt, die Vorburgs Team innerhalb von 14 Tagen vor dem wahrscheinlichen Ertrinken oder Erfrieren bewahrt hat. Nicht wenige der übrigen Männer und Frauen auf den Booten bezahlten den Fluchtversuch mit ihrem Leben.

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Erst jetzt wird ihm bewusst, was vor Libyen passiert ist

Vorburg hatte das Knarzen des Holzbodens und das Pfeifen des Windes noch Tage danach in den Ohren. "Wir haben im Akkord gearbeitet", sagt er. Im Nachhinein komme ihm die Zeit auf dem Schiff wie ein dauerhafter Trancezustand vor: Bis Anfang Juli stand der 27-Jährige noch mit Schwimmweste, Schutzhelm und Fernglas an Deck oder versorgte halb verdurstete Menschen kistenweise mit Wasserflaschen.

An diesem Tag sitzt er in Jeans und Hemd in der Container-Zentrale des Helferkreises am Ortsrand von Markt Schwaben und versucht, die Bilder in Worte zu fassen: "Erst jetzt kommt mir so langsam ins Bewusstsein, was vor Libyen eigentlich passiert ist."

Vorburg hat in knapp sieben Jahren als Rettungsassistent zerschmetterte Motorradfahrer von der Straße getragen und Menschen auf S-Bahn-Gleisen sterben sehen. "Das was ich auf dem Mittelmeer gesehen habe, sprengt jedoch alle Dimensionen, die ich bisher erlebt habe", sagt Vorburg. Er und sein Team hatten gerade erst den Zielort gut 20 Meilen vor der libyschen Küste erreicht, als das Drama seinen Lauf nahm.

Vorburg und ein Kollege hielten die erste Nachtwache, als am Morgen des 26. Juni um 2.15 Uhr der Notruf von der Seenotleitstelle in Rom einging. Kapitän Markus Neumann, der die Crew leitete, hatte sich gerade schlafen gelegt, als Vorburg ihn aufweckte. "In unserer Nähe war ein Schlauchboot gesichtet worden", berichtet Neumann. "Es war klar, dass es jetzt um Leben oder Tod ging."

Die Retter im Beiboot docken von hinten an die Schlauchboote an und versorgen die Insassen mit Schwimmwesten und Wasser. (Foto: Privat)

Auch wenn seine Worte hart klingen - präziser lässt sich die Problematik kaum ausdrücken. Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind im ersten Halbjahr 2016 mindestens 3694 Menschen gestorben oder vermisst gemeldet worden, die meisten davon im Mittelmeer. Im Vergleich zum ersten Halbjahr 2015 ist das ein Anstieg um 18 Prozent, die IOM geht davon aus, dass die Opferzahl im Sommer nochmals deutlich steigen wird.

Wegen Meldungen wie diesen kämpft der Verein Sea Eye, eine Initiative des Regensburgers Michael Buschheuer, seit Mitte April dafür, die Anzahl der Todesopfer zu reduzieren: Alle paar Wochen sticht eine Freiwilligen-Crew wie die um Vorburg in See, um zu retten, was noch zu retten ist.

Zurück im Mittelmeer, Ende Juni: Im Bericht von Kapitän Neumann dauert es nach dem Notruf bis zum Sonnenaufgang, ehe ein Kollege die Menschen-Silhouetten durchs Fernglas erkennen kann. Im ersten Schlauchboot macht die Sea Eye etwa 130 Insassen aus. "Einige von ihnen mussten auf der Gummiwand sitzen", sagt Vorburg, "so eng war das Boot besetzt."

Vom Beiboot aus sieht Vorburg einem Pärchen in die Augen, das einen schreienden Säugling hochhält. Vorburg, kräftig, bärtig, 1,90 Meter groß, bekommt beim Erzählen glasige Augen - er selbst hat eine dreijährige Tochter. "Ich war zutiefst beeindruckt, weil das ganze Boot einzig darauf bestanden hat, dass das Baby in Sicherheit kommt", sagt er. Am Ende, so Vorburg, wurden der Säugling, seine Eltern und alle anderen Insassen mit Schwimmwesten ausgestattet und von Marine-Schiffen geborgen. Diese transportieren Flüchtlinge in der Regel ans italienische Festland, wo sie in meist überfüllten Lagern untergebracht werden.

Vorburgs Einsatz fand während einer Drangphase statt, kurz zuvor hatte der Wind gedreht und somit nach einer Woche wieder Überfahrten möglich gemacht. Allein in den ersten 14 Stunden, musste die Crew von Kapitän Neumann 700 Flüchtlinge mit Wasser und Schwimmwesten versorgen. Für Vorburg, den Rettungsassistenten, war das eine Umstellung, für die er wenig Zeit hatte. "Tobias hat schnell selbstständig Zusatzaufgaben erledigt", sagt sein Kapitän. Vorburg habe Logbucheinträge gemacht und am Ende sogar das Schiff gesteuert. Am vierten Tag kam es dann zu einem emotionalen Härtetest.

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:"Wir haben ein Boot gefunden"

Johannes Bayer ist 27 Jahre alt und rettet Flüchtlinge aus dem Mittelmeer - 587 alleine in den vergangenen Tagen. Er arbeitet seit fünf Monaten auf der Sea Watch, deren Besatzung dort auf der Suche nach Booten in Seenot ist.

Protokoll von Anke Lübbert

Vorburg erinnert sich an ein Boot, das nicht mal mehr zur Hälfte besetzt war. Er erzählt, wie ein bärtiger Mann mit Strohhut noch versuchte, den Motor des Schlauchbootes in sein Fischerboot zu verfrachten, und erst verschwand, als die Männer mit den Schwimmwesten sich näherten. "Die Motoren sind ziemlich teuer, deswegen halten sich die Schlepper in Sichtweite", sagt Vorburg. Auf dem Boot sei Platz für 80 bis 100 weitere Menschen gewesen. Vorburg ist sich sicher, dass das Boot ebenso voll war wie all die anderen. "Ich habe eine Ahnung, was den Menschen zugestoßen ist", sagt der Markt Schwabener. Am Vorabend sei starker Seegang gewesen.

Für Vorburgs Aktion gab es nicht nur Zuspruch

Vorburg, der für die Grünen im Gemeinderat sitzt, zählt zu jenen Politikern, die ein Umdenken auf größerer Ebene fordern. "Es kann nicht sein, dass seit Jahren Menschen im Mittelmeer ertrinken und sich nichts an der Situation ändert", sagt er. Der 27-Jährige spricht sich seit längerem für einen legalen Einwanderungsweg für afrikanische Flüchtlinge nach Europa aus - eine Forderung, für die er nicht nur Zuspruch bekam, sondern jüngst in sozialen Netzwerken beschimpft und beleidigt wurde.

Gegner dieser Haltung argumentieren damit, dass Flüchtlinge den Weg gar nicht erst antreten würden, wenn etwa Bundeskanzlerin Angela Merkel weniger Hoffnungen auf Asyl schüren würde. Gelöst hat das Problem bis dato niemand, das zeigen Fakten und Prognosen, etwa die der IOM.

Lamentieren bringt wenig, genau deshalb ist Sea Eye für Vorburg ein Projekt, das unterstützt werden muss. "Es ist surreal, wenn du bei Sonnenschein übers Mittelmeer segelst und weißt, dass jeden Moment eine Leiche im Wasser treiben könnte", sagt Vorburg. An jenem Tag, als die Wellen stärker wurden, tauchte der dunkle Umriss dann ein zweites Mal auf, sagt Vorburg. Was erst wie eine Hand aussah, erwies sich als die Flosse eines Delfins, der sich die Bootsinsassen ansah und dann zurück in den Ozean tauchte.

© SZ vom 16.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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