Bühnenkunst:Stationen einer Wanderung

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Akira Matsui lehrt die Teilnehmer eines Workshops im Meta Theater Moosach die Kunst der ritualisierten Bewegung. Mit der SZ spricht er unter anderem über Emotion und den Reiz Becketts

Interview von Rita Baedeker, Moosach

Der Meister wirkt lebhaft und fröhlich. Nachdem er sich lächelnd und anmutig verbeugt hat, setzt er sich in der Küche seines Gastgebers Axel Tangerding im Meta Theater Moosach an den Tisch. Es gibt grünen Tee, der anregt und wärmt an diesem frühen Herbsttag mit Regenwolken, die fast bis auf die Erde sinken. Akira Matsui aus Japan wird bis Dienstag in einem Workshop die uralte Kunst des Nô-Spiels lehren - oder zumindest eine für Laien nachvollziehbare Version jener traditionellen Bühnenkunst, die vor etwa 600 Jahren entstanden ist. Nô ist der Begriff für eine geistige Kraft, die sich im Körper manifestiert. Und es ist schwer in Worte zu fassen, doch Matsui gelingt es, auch mittels seiner gestenreichen Körpersprache, im Interview ein Gefühl für diese Kunst zu vermitteln. Als kongeniale Dolmetscherin hat sich die Pianistin und Klangperformerin Masako Ohta angeboten. Am Samstag wird sie die Stücke, zu denen auch eine zeitgenössische Form des Nô gehört, auf dem Klavier begleiten.

SZ: Herr Matsui, wie erklären Sie Europäern, was Nô-Theater ist?

Akira Matsui: Folgendes ist sehr wichtig: Nô ist zwar Theater, aber die Ausdrucksform ist Tanz innerhalb festgelegter Formen, reduzierter Grundmuster und Bewegungselemente; so wie es definierte Formen des Körperausdrucks auch beim Klassischen Ballett gibt (beschreibt mit den Armen eine Arabeske).

Was werden Sie den Schülern Ihres Nô-Workshops beibringen?

Ich habe für den Kurs das Stück, "Soshiarai Komachi", ausgewählt (deutet auf ein Blatt Papier mit japanischen Schriftzeichen). Links sehen Sie ein Muster, das an eine Figur beim Eiskunstlauf erinnert. Die einzelnen Muster haben eine Bedeutung, sie versinnbildlichen verschiedene Stationen des Lebensweges, wie etwa die Wanderung auf einen Berg. Mein Anliegen ist es, Grundelemente des Nô weiterzugeben. Die Teilnehmer sollen jedoch nicht einfach mechanisch nachmachen, was ich ihnen zeige, sondern ein Gefühl bekommen für diese Ausdrucksform. So wie beim Kyodo, beim Bogenschießen. Wichtig ist nicht, das Ziel zu treffen, wichtig ist die innere Haltung, die nicht streng und steif sein soll. Vielleicht kann man es so formulieren: Nô vollzieht sich in festen Koordinaten, aber in diesem Rahmen kann man kreativ sein. So wie in der klassischen Musik: Die Formen sind festgeschrieben, aber in seiner Art zu atmen, in seiner Interpretation ist der Musiker frei.

Die Emotion geht nach innen: Der japanische Nô-Meister Akira Matsui mit einer der charakteristischen Masken. (Foto: Christian Endt)

Nô-Stücke sind oft hochdramatisch und handeln von Göttern, Geistern, Kriegern, von Liebe und Verrat. Auf der Bühne nimmt der Nô-Spieler jedoch die Emotionen zurück, nichts wird ausagiert. Was fühlen Sie, wenn Sie spielen? Sind die Gedanken abgeschaltet, ist der Kopf leer, der Spieler im Hier und Jetzt?

Mein absolutes Ziel ist es, innerlich leer zu sein. Wenn ich mit meinem Tanz einen Fluss ausdrücken will, dann will ich nur Fluss sein, sonst nichts. Aber dann kommt das Ego wieder zum Vorschein. Hundert Prozent gehen also nicht. Mein Maßstab sind 70 Prozent. Einmal bei einer Probe, habe ich mir die Maske (Nô wird mit Masken gespielt, die verschiedene Charaktere und Lebensalter verkörpern) vors Gesicht gehalten, als die Gefühle zu stark wurden. Die Emotion beim Nô geht, anders als bei Theater und Tanz im Westen, nach innen.

Geht die emotionale Askese auf der Bühne so weit, dass auch nicht gelacht werden darf?

Wirklich lustige Partien gibt es beim Nô nicht. In den 300 Stücken, die existieren, kommt das Lachen nur in zweien vor. Viel gelacht wird in den "Kyogen" genannten komödiantischen Intermezzi. So ein Nô-Stück dauert ja acht, neun Stunden, da sind solche Zwischenspiele durchaus erfrischend.

Sie sind ein klassischer Nô-Schauspieler und "Shite", also ein Hauptdarsteller und ein Star. Wie steht es in Japan um den Nachwuchs für diese Kunstform?

Es gibt junge Leute, die sich dafür interessieren, aber Nô ist ein Gesamtkunstwerk und sehr zeitintensiv. Man muss so viel lernen. Junge Leute haben oft zu wenig Zeit und Kraft, um das durchzustehen. Die Unterstützung vom Staat ist auch zu gering. Traditionell kommen die Schauspieler aus Nô-Familien. In meinem Fall war es anders. Als ich fünf Jahre alt war, kränkelte ich. Auf Anraten des Arztes habe ich mit Nô-Gesang begonnen, um meine Lunge zu stärken. Auch mein Sohn heute spielt Nô. Es gibt eine staatliche Hochschule, aber wenn man erst mit 19 oder 20 Jahren damit anfängt, ist das viel zu spät.

Das ist der Plan für das Stück Soshiarai Komachi: Links die Choreografie, rechts der Text und, als schwarze Knöpfe gekennzeichnet, die Noten. (Foto: Christian Endt)

Nô wird traditionell nur von Männern gespielt, auch die Frauenrollen. Ist das immer noch so, oder gibt es auch Frauen, die diese Kunst ausüben wollen?

Es gibt heute auch Frauengruppen, die Nô-Theater spielen. Ich halte allerdings nicht so viel davon, weil die Bewegungen des Nô dem männlichen Körperbau entsprechend aufgebaut sind. Bei einer Frau wirkt das vollkommen anders.

Sie werden am Samstag auch ein Stück im zeitgenössischen Stil zeigen, das der Schriftsteller Samuel Beckett dem Nô gewidmet hat. Wo liegen die Unterschiede zwischen klassisch und modern?

Es ist eine Gratwanderung zwischen Tradition und Moderne. Ich versuche, die Wandlungsfähigkeit des Nô zu zeigen, indem ich Elemente des modernen Tanzes ins klassische Nô einbaue. Aber wie gesagt: Es ist ein schmaler Weg.

Was also bekommen wir am Samstagabend zu sehen?

Thema des Abends ist die Frau in ihren verschiedenen Inkarnationen, vom Mädchen und der jungen Frau bis zum Alter. Zu Beginn tanze ich den Klassiker "Hagoromo", das ist die Geschichte einer Göttin, die ihr Federkleid ablegt, weil sie im Fluss baden will. Zwei Fischer finden das Kleid und wollen es stehlen; doch die Göttin weint und bittet die Männer, ihr das Kleid zu lassen. Nun wird verhandelt. Wenn sie für ihn tanze, so einer der Fischer, bekomme sie ihr Kleid zurück. Sie stimmt zu, doch der Fischer traut der Sache nicht. Naja, die Moral ist, dass man göttlichen Wesen schon trauen darf (lacht). Darauf folgt der Einakter "Rockaby" von Beckett. Es geht um das Sterben einer alten Dame im Schaukelstuhl.

Wie passt Beckett zum Nô?

Auch in seinem Werk geht es um menschliche Grundsituationen. Beckett ist sehr viel mehr Nô als die japanischen Stücke. Seine radikale Reduktion, seine schöne Sprache faszinieren mich. Ich möchte die Schönheit dieser Sprache in Bewegung übersetzen.

Der dritte Teil des Abends ist dann wieder japanisch?

Ja, die Narayama-Lieder sind ein Zyklus von Liebesliedern aus dem 19. Jahrhundert. Masako Ohta wird zwischen den Stücken Musik des japanischen Komponisten Toru Takemitsu und diverse Improvisationen spielen.

Welches sind Ihre weiteren Pläne?

Für 2017 plane ich mit einem englischen Autor eine Nô-Oper. Ich will Nô in einer anderen Form aufführen, will es konfrontieren mit neuen Ausdrucksmöglichkeiten.

An diesem Samstag, 5. September, wird Akira Matsui drei Stücke aufführen. Dazu spielt die Pianistin Masako Ohta. Beginn ist um 20 Uhr. Karten zu 18, ermäßigt 14 Euro gibt es unter Telefon (08091) 3514 und info@meta-theater-com.

© SZ vom 05.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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