Der Auftakt:"Zum Feiern grimmig entschlossen"

Lesezeit: 3 min

Selten war der Wunsch nach einer friedlichen Wiesn so stark zu spüren wie heuer. Dieter Reiter ist zu 1000 Prozent sicher, dass er mit gutem Gefühl gekommen ist. Für Gerüchte sorgt dann aber Horst Seehofers frühes Verschwinden

Von Laura Kaufmann, Christian Krügel und Frank Müller

Alles ist Symbol, alles hat Bedeutung bei dieser ganz besonderen Sicherheitswiesn in diesen ganz besonderen Terrorzeiten. Keiner weiß das wohl besser als Dieter Reiter, und deshalb merkt man dem Oberbürgermeister an diesem ersten Wiesn-Tag gerade dann die Anspannung an, als er besonders locker sein möchte. "Ich kann mit 1000-prozentiger Wahrscheinlichkeit sagen, dass ich mit dem gleichen Gefühl auf die Wiesn gehe wie auch sonst", sagt er kurz vor dem Anzapfen. Das gelingt ihm mit zwei Schlägen so perfekt, dass er schon im dritten Amtsjahr spätes Ude-Niveau erreicht. Vor allem setzt er ein Zeichen für die grölende Menge im Schottenhamel-Zelt: "Seht her, alles ist wie immer." Die leicht zitternden Hände des OB sieht die Menge ja nicht.

Ruhe und Gelassenheit ist oberste Politiker-Pflicht in aufgeregten Zeiten, das wissen auch all die Partei-Honoratioren, die das Geschehen vom Schottenhamel-Balkon aus verfolgen. Der ist jedes Jahr beim Anzapfen eine Art Mini-München. Die Stadt lädt nicht nur Landes- und Kommunalpolitiker, sondern auch Repräsentanten der großen Münchner Unternehmen, von Verbänden und Vereinen ein. Also sollte man sich als Minister, Bürgermeister, Stadtrat dort keine Blöße geben, und so lächelt man bei der ersten Mass allen Zwist gekonnt weg. Wirtschaftsministerin Ilse Aigner (CSU) stößt mit Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) und Grünen-Dirndl-Trägerin Claudia Roth an. Die Münchner CSU schluckt schulterzuckend jede blöde Bemerkung zu ihrem umstrittenen Wiesn-Stadtrat Otto Seidl hinunter. Bei der SPD essen einige betont langsam, weil sie dann nicht mehr zur Anti-Ceta-Demo gehen müssen, die ja irgendwie auch eine Anti-Gabriel-Demo ist. Und Grünen-Landtagsfraktionschefin Margarete Bause strahlt genau deshalb vor Freude, weil sie problemlos den Dreisprung aus Landwirtschafts-, Oktober- und Anti-TTIP-Fest schafft.

Das Anzapfen gelingt Dieter Reiter mit zwei Schlägen so perfekt, dass er schon im dritten Amtsjahr spätes Ude-Niveau erreicht. (Foto: Getty Images)

Blickte ein von Terror- und Lebensangst bedrückter Bürger in diesem Moment auf seine politische Klasse, er wäre aller Sorgen ledig, angesichts so viel Zufriedenheit. Einer hat sich die in diesen Stunden tatsächlich schon hart erarbeitet. Thomas Böhle, der als Kreisverwaltungsreferent auch erstmals Sicherheitschef der Wiesn ist, war bis weit nach Mitternacht mit letzten Vorbereitungen beschäftigt. Am Morgen dann lässt er sich mit einem Feuerwehrwagen einmal ums Festgelände fahren. Er will sich persönlich davon überzeugen, dass alles läuft. Abgesehen von Kleinigkeiten funktioniere das Sicherheitskonzept, das ihm prompt ein Lob von Alt-Oberbürgermeister Christian Ude einbringt. Der hat schon viele Sicherheitsdebatten erlebt, stellt sich aber voll hinter das Konzept. Und auch wenn die Wiesn sehr viel leerer sei als früher: "Die, die gekommen sind, sind zum Feiern grimmig entschlossen", sagt Ude. Alles ist also in bester Ordnung an diesem ersten Wiesn-Mittag - nur einer mag nicht mitspielen. Ausgerechnet Ministerpräsident Horst Seehofer fehlt, und schnell breitet sich doch besorgte Unruhe aus. Beim Anzapfen war Seehofer noch gesehen worden, die erste Mass nahm er von Reiter entgegen. Dann verschwand er, kein triumphaler Einzug auf dem Ratsbalkon, auch kein joviales Winken in die Menge, wie es die Ministerpräsidenten seit Jahrzehnten pflichtschuldigst immer taten - und all das ausgerechnet bei dieser Wiesn. Prompt laufen Gerüchte durchs Zelt. Seehofer wisse mehr als alle und bringe sich in Sicherheit, sagen die einen. Er sei doch sehr krank, sagen die anderen. Seehofer sei sauer auf Josef Schmid, weil der Markus Söder zum Bleiben in der Landespolitik aufgefordert habe, sagen die, die den Wiesn-Bürgermeister für wichtiger halten, als es die Staatskanzlei tut.

Kurz danach kommt die Meldung, Seehofer sitze in einer Box des Hofbräuzelts, ausgerechnet bei Markus Söder. Der Finanzminister ist dort Hausherr und hatte zudem Finanzstaatssekretär Jens Spahn aus Berlin eingeladen. Somit hatte der Ministerpräsident eine wunderbare Gelegenheit, mit dem Berliner auf der Wiesn über die Erbschaftssteuer und ähnlich Zünftiges verhandeln zu können. Das Signal ist klar: Seehofer arbeitet selbst dann noch, wenn die anderen im Schottenhamel-Zelt feiern. Doch dort kommt das Verschwinden gar nicht gut an, auch wenn Stellvertreterin Ilse Aigner von Bank zu Bank hüpft und viel mehr Hände schüttelt, als es ihr Chef jemals getan hätte.

"So was gehört sich nicht", raunen vor allem Nichtpolitiker in der Ratsbox über Seehofer. Und Reiter, der über die Flucht ins Hofbräuzelt informiert war, kommentiert nur säuerlich: "Ich kommentiere das nicht." Eines dürfte ihn trösten: Markus Söder musste im Hofbräu auf die Wirtsleute Steinberg warten und zapfte zu spät an. Alles ist ein Symbol, an diesem Samstag.

© SZ vom 19.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: