Theatertage Dachau:Kinderspiel

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6000 verkaufte Karten, 32 Aufführungen in 14 Tagen und die anspruchsvolle Idee eines echten Gesprächs mit den jungen Zuschauern über das Leben, Gefühle und den Mut, Ängste zu erzählen.

Von Wolfgang Eitler, Dachau

Der Bub schluchzt: "Ich war im Bus laut, hab' Schmarrn g'macht." Eine junge Frau nimmt ihn in den Arm und streichelt seinen Kopf. "Und jetzt darf ich nicht ins Theater." Dabei spielen sie dort die Geschichte vom Räuber Hotzenplotz und dem Kasperl, dem Seppl und dem Zauberer, der am Ende Kartoffeln in der Hölle schälen muss. Eigenhändig, ohne jeden Zaubertrick.

Die Szene auf der Treppe zum Ludwig-Thoma-Haus in Dachau hinauf zu den Theatertagen für Kinder und Erwachsene wäre vielleicht nicht aufgefallen, wenn nicht das Theater Laboratorium aus Oldenburg wenige Tag zuvor die Geschichte des polnischen Pädagogen Janusz Korczak erzählt hätte. In seinem Waisenhaus in Warschau vor dem Zweiten Weltkrieg wäre eine solche Szene wie im Foyer in Dachau nicht denkbar gewesen. Niemals hätte Korczak eine solche Drohung erlaubt.

Seine Sätze brennen sich während der Aufführung ins Gedächtnis ein: Kinder sind Gesprächspartner. Erzieher sollten sich vergegenwärtigen, dass sie mit Kindern Lebensstunden und nicht nur Zeit verbringen. Mit anderen Worten: Kinder haben das Recht auf Augenhöhe, auch wenn Erwachsene mühsam in die Hocke gehen müssen. Janusz Korczak hatte diese Prinzipien gelebt.

Organisator Frank Striegler kommt aus der Pädagogik

Wenn 16 Frauen und Männer seit mehr als 25 Jahren Kindertheater aufführen und seit 16 Jahren die Theatertage organisieren, dazu zahlreiche Schauspieler, Puppenspieler aus ganz Europa nach Dachau holen, dann darf man vermuten, dass sie der Gedankenwelt des polnischen Arztes nahestehen. Frank Striegler, der Mittelpunkt dieser Gruppe, kommt aus der Pädagogik. Er ist selbst Erzieher und hat sich für diesen Beruf entschieden, als es noch die viel geschmähten antiautoritären Kinderläden gab, dazu frei gestaltete Gruppen, welche die gängigen Kindergärten ablehnten. Vor der Aufführung des Theaters Laboratorium von Puppenspieler Pavel Möller-Lück hatte er nochmals Korczak gelesen. "Wahnsinn, was der Mann schon vor 110 Jahren Richtiges gesagt hat." Der "Vater der Kinderrechte" wird gerade wieder von der Pädagogik an den Universitäten entdeckt. Ein Korczak-Grundkurs täte dem Erzieher eines Dachauer Kindergartens, der das Theaterverbot gegen den Buben verhängte, nicht schlecht. Auch im Theatersaal fällt er durch einen weithin hörbaren Tonfall auf. Außerdem sind einige wenige Eltern anscheinend der Ansicht, dass bei den Theatertagen die Betreuung inklusiv ist. "Ich hole die Kinder nach der Veranstaltung ab." Widerspruch unerwünscht. Vermutlich auch sinnlos. Selbst schuld, weil sie viel verpassen.

Sabine Mittelhammer vom Theater Handmaids und der Räuber Hotzenplotz mit Kaffeemühle. (Foto: Toni Heigl)

Anna Rampe alias Anne Fergine aus Berlin bittet die Maus, ihren Albtraum vom Rumpelstilzchen zu erzählen, damit es ihr leichter ums Herz wird. Gleichzeitig hebt die Puppenspielern die Geschichte auf eine rückblickende Ebene. Dieser dramaturgische Effekt ermöglicht es ihr, die Figuren langsam und ausführlich einzuführen, ihnen Raum für Nuancen zu geben. Das Rumpelstilzchen hätte auch Karriere als Rocksänger machen können, wenn er halt nicht so abgrundtief böse gewesen wäre. Die Maus wird ihren Albtraum los.

Die Wahl der Stücke auf den 16. Theatertagen hat Methode. Denn Kinder haben Angst. Wie das Mädchen, von dem Franz Striegler erzählt, das ein Theaterstück nicht aushielt, "vielleicht weil es ähnliches geträumt hat". Oder der Bub, der zwar den ganzen Hotzenplotz nacherzählen kann, aber die Bilder hält er nicht aus. "Kann passieren", sagt Striegler und beruhigt besorgte Eltern.

Insofern war das Theater Laboratorium sicherlich der Höhepunkt der Theatertage, und gleichzeitig deren geistiger Anker. Pavel Möller-Lück schuf in einem Zusammenklang aus Erzählung, Zeitzeugenbericht und Puppentheater die Idee eines Zusammenlebens ohne Gewalt und ohne den Druck von Verboten und Bedingungen. Bis hin zu der Konsequenz, gemeinsam mit den Waisenkindern in den Tod im Vernichtungslager Treblinka zu gehen; sie zu begleiten.

Es ist faszinierend, wie kleine Puppen im Laufe des Spiels lebendig und menschengroß sind, wie das Apfelmännchen. (Foto: oh)

Pavel Möller-Lück und Anna Rampe loteten letztlich die Bandbreite heutigen Puppentheaters aus. Ihnen gelingt es auf unterschiedliche Weise, Raum für Erzählungen, für konzentrierte Charakterisierung von Figuren und inhaltlichen Ergänzungen zu schaffen. Möller-Lück durch eine Bühne, die wie ein imaginärer Setzkasten ausschaut und deren Utensilien im Lauf des Stückes Handlung und Geschichte entwickeln. Anna Rampe durch postdramatische Elemente, die den Spannungsbogen teilweise auflösen oder erweitern. Die Geschichte des Rumpelstilzchens wird vom glücklichen Ende her erzählt, um die Angst vor ihm zu bewältigen. Und da kann es richtig lustig werden, wenn die Müllertochter gemeinsam mit den Zuschauern nach Namen sucht oder der König ein wenig tollpatschig daherkommt. Am Schluss applaudieren die Erwachsenen fast noch mehr als kleinen Zuschauer.

Beide Stücke bildeten auf den Theatertagen eine Einheit, die um viele Aspekte modernen Kindertheaters ergänzt wurden. Um das Spiel mit Kinderliedern zu den Jahreszeiten durch das Faks-Theater aus Augsburg für Dreijährige, oder durch das Apfelmännchen von Susanne Claus aus Berlin. In diesem Jahr hat Striegler einen Schwerpunkt auf das Berliner Puppentheater gelegt, das sich wegen der Ernst-Busch-Schauspielschule zu einem Zentrum dieses Genres entwickelt hat. Die Inszenierungen folgen der Idee einer gezielt schauspielerischen Komponente. Der Puppenspieler selbst wirkt durch seine starke Präsenz.

Der König, sein krimineller Schatzmeister und Puppenspielerin Anna Rampe in dem postdramatisch inszenierten Rumpelstilzchen. (Foto: Toni Heigl)

Die Bühne der Ernst-Busch-Absolventin Sabine Mittelhammer ist ein Paravent mit Fenstern. Er dient als Haus, als Hölle oder Zauberschloss und als Guckkastenbühne für die Puppen, den Kasperl und sein klassisches Ensemble. Die Künstlerin, die sechs Jahre lang bei der Augsburger Puppenkiste tätig war, lässt die Kinder an ihrem Schicksal als Oma teilhaben. Ansonsten bleibt Sabine Mittelhammer im Muster des klassischen Kasperltheaters, von dem übrigens Oscar-Preisträger Christoph Waltz schwärmt. Der neue James Bond sei auch nichts anderes, hat er kürzlich der SZ gesagt. Am Schluss wird der Räuber Hotzenplotz gefangen genommen. Und der weinende Bub übrigens durfte dann doch in den Theatersaal. Dort saß er verträumt auf seinem Stuhl.

"Isch liebe äppi End", sagt der König zur Müllertochter im Rumpelstilzchen. Das Happy End für die Theatertage sieht so aus: 6000 verkaufte Karten. Ein entspannt wirkendes Theaterteam, als wäre die Organisation von 32 Veranstaltungen ein Kinderspiel. Außerdem hebt Frank Striegler die Resonanz bei den Erwachsenen hervor, die sich zusehends für Puppentheater interessieren. Ihnen hat er dieses Jahr zusätzlich einen begeistert aufgenommenen Abend mit Stefan Wilkening und einer Hommage an Till Eulenspiegel als Hörspiel mit Livemusik geboten. Aber die Kinder bilden den Mittelpunkt. "Es ist ist nur eines wichtig. Es muss gutes Theater sein", sagt Frank Striegler. Es muss im Sinne Korczaks Kinder ernst nehmen.

Karten gibt es noch für "Frau Grimm erzählt", Donnerstag, 19. November, 20 Uhr (0175/828 95 56).

© SZ vom 18.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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