Diskussion zur Leitkultur:Humanität - das höchste Gut

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Müssen Einwanderer bayerische Traditionen pflegen? Darf die Mehrheit einer Minderheit vorschreiben, dass sie sich mit ihrer neuen Heimat zu identifizieren hat? Eine Diskussion im Adolf-Hölzel-Haus über Sinn und Unsinn der Leitkultur

Von Robert Stocker, Dachau

Nur an einer Stelle wird die Debatte ein bisschen emotional. Nein, als Leithammel möchte er eigentlich nicht bezeichnet werden, sagt Landrat Stefan Löwl (CSU) zur Moderatorin gewandt. Marese Hoffmann, Fraktionsvorsitzende der Grünen im Dachauer Kreistag, konfrontiert Löwl augenzwinkernd mit diesem Begriff, nachdem er den Zuhörern erläutert hat, dass er im Landkreis über die Spielregeln der Leitkultur zu wachen hat. Doch auf dem Podium im Adolf-Hölzel-Haus, in das Bündnis 90 / Die Grünen zu einer Diskussion über Sinn und Unsinn solcher Regeln eingeladen haben, sieht sich der Landrat nicht als Vertreter der bayerischen Staatsregierung. Vielmehr als Kommunalpolitiker und Katholik. Er versteht Leitkultur nicht als Kampfbegriff. Und er versichert den etwa hundert Zuhörern: "Die Menschen im Landkreis werden damit leben können, wie wir dieses Wort auslegen."

Etwa hundert Zuhörer kamen ins Adolf-Hölzel-Haus, darunter viele Mitglieder aus den Asyl-Helferkreisen. Nach der Podiumsdiskussion konnten sie Fragen an die Teilnehmer stellen. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Auch von "bayerische Identität" ist die Rede

Moderate Töne zu einem Thema, das seit der SPD-Regierung unter Kanzler Gerhard Schröder das gesamte Land bewegt. Der Begriff "deutsche Leitkultur" wurde vom damaligen Zeit-Herausgeber Theo Sommer geprägt. Seine These: Integration bedeutet in Deutschland, dass sich Einwanderer an die deutsche Leitkultur anpassen müssen. Friedrich Merz, CDU-Fraktionsvorsitzender im Bundestag, forderte daraufhin Regeln für Einwanderung und Integration als Teil einer deutschen Leitkultur. Was darunter in Bayern zu verstehen ist, hat die CSU definiert. Dazu gehörten Traditionen, Lebensweise und die Wertschätzung von Solidarität und Freiheit, stellte CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer fest. Das Ziel von Integration sei unsere Leitkultur, sagte Ministerpräsident Horst Seehofer in einer Regierungserklärung vor dem bayerischen Landtag im September vergangenen Jahres. Seehofer setzte sich dafür ein, den Begriff Leitkultur in die bayerische Verfassung aufzunehmen. Im Dezember verabschiedete das Landesparlament das Integrationsgesetz, in dessen Präambel ein Bekenntnis zur hiesigen Leitkultur steht. Auch von einer "bayerischen Identität" ist dort die Rede.

Zur Leitkultur gehören die Spielregeln der Demokratie. Darüber waren sich Elisabeth Ramzews, Julian Nida-Rümelin, Jutta Neupert, Marese Hoffmann, Norbert Göttler, Jutta Krispenz und Stefan Löwl (v.l.) auf dem Podium im Adolf-Hölzel-Haus einig. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Was gehört zur Integration? "Jedenfalls nicht, jeden Abend eine Halbe Bier zu trinken"

Wendet sich diese Identität gegen Einwanderer? Darf die Mehrheit einer Minderheit vorschreiben, welche Kultur sie leben muss? Philosophie-Professor Julian Nida-Rümelin, der ebenfalls auf dem Podium im Adolf-Hölzel-Haus sitzt, definiert zunächst die Säulen der Leitkultur. Sie basieren auf der Ordnung des Liberalismus, sagt der ehemalige Kulturstaatsminister und Münchner Kulturreferent. Über allem stünden die Menschenrechte. Einwanderer müssten sich an die deutsche Leitkultur anpassen, forderte der CDU-Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz. Nida-Rümelin: "Ich dagegen habe gesagt, dass wir eine Leitkultur des Humanismus brauchen." Zu dieser Kultur gehört für den Philosophie-Professor das normative Fundament der Demokratie, Zivilität im Alltag und keine Hasstiraden. Die CSU sagt, wer in Bayern bleiben will, muss auch die deutsche Leitkultur leben, stellt Moderatorin Hoffmann in den Raum. Für Landrat Löwl ist es zunächst wichtig, dass Einwanderer die Schranken der Demokratie beachten. Den Begriff Leitkultur könne man nicht eindeutig definieren. Löwl: "Er entstand aus einer Verunsicherung." Der Begriff solle eine Orientierung für Einwanderer sein, sie müssten ihn aber nicht eins zu eins übernehmen. Wichtig ist für ihn, dass sie die Menschenrechte anerkennen und das deutsche Erbe akzeptieren. Löwl schildert ein Erlebnis mit einer Asylsuchenden: Eine Muslimin fragte ihn bei der Ankunft in der Indersdorfer Tennishalle, was sie tun muss, um sich integrieren zu können. "Dazu gehört jedenfalls nicht, jeden Abend eine Halbe Bier zu trinken", konstatiert der Landrat. Sorgen macht ihm der aufkeimende Rechtspopulismus. "Die Demokratie ist in Gefahr."

Zur Leitkultur gehören die Spielregeln der Demokratie. Darüber waren die Teilnehmer Diskussionsteilnehmer auf dem Podium im Adolf-Hölzel-Haus einig. (Foto: Niels P. Joergensen)

"Das Christentum ist nicht die Quelle aller Humanität", warnt Julian Nida-Rümelin

Die Theologin Jutta Krispenz, die ebenfalls zur Runde gehört, hält nichts davon, dass Einwanderer christliche Traditionen annehmen sollen. Denn das Abendland habe nicht nur christliche Wurzeln. Doch auch in der christlichen Lehre sei die Gleichheit aller Menschen verankert. Die Theologin verweist auf die Bergpredigt, die noch heute ein Gegenentwurf zum sozialen Darwinismus sei. Nida-Rümelin warnt davor, das christliche Erbe "zu harmonistisch" zu sehen. Der Philosoph erinnert daran, dass das zerstrittene Christentum für die Konfessionskriege verantwortlich war. Die Kirche habe Hunderte Intellektuelle getötet, weil sie der offiziellen Doktrin widersprachen. "Vorsicht", mahnt Nida-Rümelin, "das Christentum ist nicht die Quelle aller Humanität". Als unverzichtbares Element für die Leitkultur sieht er die demokratische Ordnung.

Müssen Immigranten bayerische Traditionen pflegen? Aus Sicht von Bezirksheimatpfleger Norbert Göttler geht es nicht darum, Klischees zu erfüllen. Die moderne Heimatpflege stehe Ideologien kritisch gegenüber. Wichtig ist für ihn die Frage, welche Heimat den nachfolgenden Generationen übergeben wird. Die Bezirke hätten das Anliegen der Inklusion. Die Leitkultur sei ein verbrauchtes Wort, doch zu ihr gehören Verfassung und Aufklärung. Dem müsse sich auch die Heimatpflege stellen. Auch Elisabeth Ramzews, bei der Inneren Mission München zuständig für die Flüchtlingsarbeit, ist es wichtig, dass die humanistischen Werte eine Basis für die Leitkultur sind. Die Filmemacherin und BR-Journalistin Jutta Neupert lehnt eine Leitkultur rundweg ab. "Damit setzen sich einige über andere hinweg." Neupert hat einen Film über eine junge Muslimin in Bayern gedreht, die eigentlich den islamischen Feminismus vertritt. Aus Angst vor Anfeindungen trägt sie jetzt kein Kopftuch mehr. Nach Ansicht von Neupert führt die im Integrationsgesetz formulierte Leitkultur dazu, dass vor diesem Gesetz nicht alle Menschen gleich seien. "Wer sorgt dafür, dass sie nicht zur Menschenfeindlichkeit führt?", fragt die Filmemacherin in die Runde. Menschen, die Schutz und Hilfe suchen, brauchen Raum, fordert Theologin Krispenz. Sie könnten ihre Kultur nicht ablegen, sondern sollten sie bewahren und pflegen können. Ein Grund für die Radikalisierung bestehe darin, dass sie zu wenig Respekt bekämen.

Ein Zuhörer stellt an die Diskutanten die Frage, welche Bedeutung der Streit um die Leitkultur im Bundestagswahlkampf haben wird. Man müsse den neuen Rechtspopulismus mit einer sachlichen und demokratischen Debatte in die Schranken weisen, sagt Philosophieprofessor Nida-Rümelin. Landrat Stefan Löwl glaubt, dass der Streit um die Leitkultur nur ein Symptom im Wahlkampf sei. "Das wahre Problem besteht darin, dass die Demokratie in Gefahr ist." Moderatorin Hoffmann zieht am Ende ein Fazit: Wenn die Diskussion dazu beiträgt, dass die Menschen hier besser zusammenleben, sei der Abend ein Erfolg.

© SZ vom 16.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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