Dachau/Schönbrunn:Eine Frage des Mutes

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Das Franziskuswerk in Schönbrunn will die Inklusion verwirklichen und plant mit dem Bezirk Oberbayern den radikalen Umbau. Aber bei einem wichtigen Baustein laufen sie Gefahr zu scheitern: dem Aufbau von Schulen, die dieser Idee entsprechen

Von Wolfgang Eitler, Dachau/Schönbrunn

Die geografische Lage des Franziskuswerks für geistig behinderte Menschen mitten im Landkreis Dachau vergegenwärtigt dessen politische Bedeutung für die gesamte Region München: Aus ökonomischer Sicht, weil es sich bei dem gemeinnützigen Unternehmen um den größten Arbeitgeber des Landkreises mit mehr als 1600 Mitarbeitern handelt. Aus sozialpolitischer Sicht, weil das Franziskuswerk, von seinen Bedingungen her gesehen, einer der größten Anbieter sozialer Leistungen ist. Und das nicht nur auf den Landkreis bezogen, sondern auf ganz Oberbayern.

Von den gut 60 Millionen, die der Bezirk Oberbayern als Kostenträger im vergangenen Jahr für Leistungen im Landkreis Dachau zahlte, fließen allein mehr als 47 Millionen an das Franziskuswerk. Etwa die Hälfte der Leistungen wird von Menschen mit Behinderung in Anspruch genommen, die im Landkreis zu Hause sind. Viele Behinderte aus der erweiterten Region zieht es aber mangels entsprechender Angebote bei ihnen daheim oder wegen der Vorzüge des Franziskuswerks dorthin. Dem Bezirk und dessen Präsidenten Josef Mederer (CSU) aus Altomünster wäre es allerdings viel lieber, wenn sich ein größerer Teil der Angebote und damit auch der vielen Millionen Euro auf die gesamte Region verteilen würde. Denn dann könnten all diese Menschen auch in ihrem gewohnten Umfeld bleiben.

An diesem Punkt treffen sich die ökonomischen und finanzpolitischen Aspekte mit der zentralen pädagogischen und sozialen Idee der Inklusion, wie sie in der UN-Behindertenrechtskonvention festgehalten ist. Alle Menschen sollen selbstverständlich an der Gesellschaft teilhaben. Deshalb wünschte sich Bezirkstagspräsident Mederer ein Franziskuswerk, das Leistungen wie Werkstätten, Wohngruppen und therapeutische Maßnahmen zu den Menschen bringt, anstatt sie zentral nach Schönbrunn mitten im Dachauer Landkreis zu locken.

Nichts anderes will das gemeinnützige Unternehmen selbst. Das Vorhaben ist allerdings riskant. Denn die Folge wäre, dass im Dorf Schönbrunn im Sinne der Inklusion ständig weniger behinderte Menschen leben. Schönbrunn öffnet sich also nach außen. Aber es soll auch einen Weg nach innen geben, indem möglichst Familien in das Dorf ziehen und dort die Inklusion leben. Schönbrunn soll ein ganz normales Dorf werden. Und in diesem Sinne Modellcharakter erhalten. Dazu passte eigentlich eine richtige Inklusionsschule. Aber diese Idee ist vorerst gescheitert, weil dem Unternehmen in Schönbrunn der lange Atem fehlte, um sich mit der Regierung von Oberbayern als übergeordnete Schulbehörde und mit dem bayerischen Kultusministerium in eine Auseinandersetzung über ihre Ideen einzulassen.

Denn das bestehende Gebäude der Johannes-Neuhäusler-Schule in Schönbrunn ist zu marode, als dass das Franziskuswerk den bereits so gut wie genehmigten Neubau nach dem üblichen offiziellen Modell eines Förderzentrums mit sonderpädagogischem Förderbedarf hinauszögern wollte. Dass das Kultusministerium der Neuhäusler-Schule eben erst das Prädikat einer "Inklusionsschule" verliehen hat, tröstet das Kollegium indes nicht. Es findet die Auszeichnung geradezu lächerlich. Nichts an dem, was der Freistaat als Inklusion anbietet, ist in seinen Augen den Titel wert.

Regelmäßig treffen sich Schüler des Gymnasiums in Markt Indersdorf mit Kindern der Neuhäusler-Schule zu gemeinsamen Musik- und Theaterprojekten. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Rektorin Angelika Hillreiner und Gertraud Martin, zuständig für den gesamten Kinder-und Jugendbereich am Franziskuswerk, erklären ihre Schulidee modellhaft: Man stelle sich vor, die Lehrerin eines Kindes bittet die Eltern zu Beginn des Schuljahres zum Gespräch. Sie unterhalten sich mit ihr über Leistung und Leistungsvermögen, aber auch über die Talente. Die Lehrerin erstellt einen Plan, mit den Zielen, die ihr Kind selbstverständlich erreichen kann bis hin zu denjenigen, die wünschenswert wären. Auch kommen die Begabungen im musischen, sportlichen oder auch technischen Zweig nicht zu kurz. Dieses Ideal strebt die Johannes- Neuhäusler-Schule in Schönbrunn an. Nicht nur für die geistig behinderten Schülerinnen und Schüler, sondern für alle. Deshalb hätten sie sich die Anerkennung als Modellschule durch das bayerische Kultusministerium gewünscht.

Die Rektorin sagt: "Für mich ist inklusives Lernen die höchste Form überhaupt." Jahrelang hat ihr Lehrerkollegium an der Idee gefeilt, um ein Lernen zu ermöglichen, das die Trennung zwischen behinderten und nicht behinderten Kindern aufgibt. Ein Lernen nach individuellen Zielen und nicht nach dem Kanon des Lehrplans als starren Rahmen. In einer solchen Schule der Inklusion würden die Kinder und Jugendliche nicht weniger, sondern mehr leisten. Sowohl kognitiv als auch ihre Talente und das soziale Leben betreffend. Dazu braucht es kleine Klassen, ein Zweilehrersystem und die Bereitschaft des Freistaats, in die Bildung finanziell massiv zu investieren.

Dagegen betont das Kultusministerium, dass "Bayern den Weg der Inklusion durch eine Vielfalt schulischer Angebote und den Weg der Evolution" suche. Dazu gebe es mehrere Modelle: Kooperationsklassen, Tandemklassen und Partnerklassen. Es handelt sich um Optionen, wie die einzelnen Schulen und Schularten miteinander zusammenfinden und über verschiedene Lehrformen vernetzt werden können. Das Kultusministerium betont in der schriftlich vorliegenden Stellungnahme, dass zusätzlich "auch die Inklusion des einzelnen Schülers mit Behinderung vor Ort in seiner Sprengelschule beziehungsweise wohnortnahen Schule" möglich sei. Dabei ist Inklusion für das Ministerium keine Frage des Schulmodells. Vielmehr dröselt es die Idee in "inklusive Leistungen auf".

Wenn aber Tandem- oder Partnerklassen schon Inklusion sind, was braucht es dann noch die Ideen der Neuhäusler-Schule? Insofern stellt sich die Frage nach der richtigen Definition. Wer hat Recht mit seiner Vorstellung? Das Kultusministerium oder vielleicht doch die Johannes-Neuhäusler-Schule? Wegen der unabhängigen Beratung in Menschenrechtsfragen ist in der Bundesrepublik Deutschland das Deutsche Institut für Menschenrechte in Berlin gegründet worden. Zusätzlich verfügt es über eine Monitoring-Stelle, die als offiziellen Auftrag unabhängig und kritisch die Umsetzung der Behindertenrechte begleiten soll. Das Institut wird über staatliche Zuschüsse finanziert. In Kürze wird seine Aufgabe gesetzlich verankert. Es ist also die maßgebliche Autorität in all diesen Fragen, zu denen auch die Inklusion gehört.

Das Institut hat Richtlinien einer Bildungspolitik erarbeitet, die sich an den einschlägigen Passagen der UN-Behindertenkonvention orientieren. Das Leitziel lautet: "Das Recht auf inklusive Bildung im Sinne der Konvention ist ein individuelles Recht." Inklusion bedeutet dabei, dass jedes Kind die wohnortnahe Regelschule besuchen darf. Sie müssten allerdings so ausgestattet werden, dass ein am jeweiligen Individuum orientiertes Lernen möglich wird. In einer ersten, kurzen Stellungnahme teilt die Monitoring-Stelle auf Anfrage der SZ schriftlich mit: "Bayern ist auf dem Holzweg und behauptet, Inklusion zu schaffen, wo es Segregation betreibt." Die Entscheidung zugunsten der Neuhäusler-Schule ist gefallen.

Der Neubau der maroden Neuhäusler-Schule böte die Chance auf einen pädagogischen Neubeginn. (Foto: Toni Heigl)

Der Leiter der Monitoring-Stelle, Valentin Aichele, präzisiert im Gespräch die Position des Instituts: Inklusive Bildung würde voraussetzen, dass die in Deutschland üblichen Regelschulen alle inklusiv sind. Um echte inklusive Schulen zu sein, müssten sie völlig anders arbeiten als die Regelschulen heute. Dieser Ansatz entspricht offenbar den Ideen der Neuhäusler-Schule, wonach jedes Kind nach seinen Möglichkeiten und Talenten gefördert wird; sei es geistig behindert oder hochbegabt. Und zwar in einer Atmosphäre des gemeinsamen Lebens und Lernens.

Mit anderen Worten: Der Mut, den die Inklusion dem Franziskuswerk und dem Bezirk Oberbayern durch die UN-Konvention abringt und der zu grundlegenden strukturellen Veränderungen führt, wünschte man auch den bayerischen Bildungspolitikern.

Dass aber Bayern für seine Angebote, die allenfalls als Integration gewertet werden könnten, einzelne Kinder an Regelschulen einzubinden, den Begriff der Inklusion verwendet, bezeichnet Valentin Aichele als "Etikettenschwindel". Bayern steht nicht allein. Wie die Nachforschungen der Bertelsmann-Stiftung erst kürzlich ergeben haben, ist die Anzahl an Schülern in Förderzentren nicht maßgeblich gesunken. Der UN-Bericht 2015 stellt Deutschland ein schlechtes Inklusionszeugnis aus.

In der Stellungnahme des Kultusministeriums heißt es abschließend über die Vorschläge der Johannes Neuhäusler-Schule: "Mitarbeiter des Ministeriums werden auf die Beteiligten zugehen, um ein gemeinsames Gespräch zu vereinbaren." Tatsächlich kommt Bewegung in die Diskussion; sowohl, was die Pädagogik der Neuhäusler-Schule betrifft als auch den geplanten Neubau einer Grund- und Mittelschule in Odelzhausen. Dort ist die dauerhafte Einbindung von geistig behinderten Kindern der Gemeinde in die vom Ministerium zugelassenen Optionen der Partner-, Kooperations- oder Tandemklassen umstritten.

Nach Informationen der SZ haben Kultusministerium und Regierung von Oberbayern die Neuhäusler-Schule zu einem informellen Gespräch über dessen Schulkonzept geladen. In der Debatte um Odelzhausen zeigt sich das Ministerium offen für eine Lösung im Sinne des Franziskuswerks; also einer Einbindung der Außenklassen der Neuhäusler-Schule in den geplanten Neubau. Es weist allerdings auch darauf hin, dass die Zuständigkeiten des kommunalen Schulverbands aus Odelzhausen, Pfaffenhofen und Sulzemoos zu berücksichtigen seien. Bisher sind die dortigen behinderten Kinder in einer umgebauten Gewerbehalle untergebracht.

© SZ vom 02.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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