Gedenkfeier:"Ich weine"

Lesezeit: 3 min

"Die Waggons waren voller Leichen": Wassily Nowak steht auf dem Rest des Gleises, das zum Lager führte. Hier wurde der Todeszug abgestellt. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Der heute 90-jährige Wassily Nowak erinnert sich an die Fahrt im Todeszug von Buchenwald nach Dachau. Er ist einer der letzten Überlebenden. Am Sonntag nimmt er an der Befreiungsfeier in der Gedenkstätte teil

Von Anna-Sophia Lang, Dachau

Am Nachmittag des 29. April 1945 wird das KZ Dachau befreit. Die aus Westen heranrückenden Soldaten der US-Armee machen, noch bevor sie das Häftlingslager erreichen, eine Entdeckung, die ihnen fast den Verstand raubt. Ein Güterzug steht auf den Gleisen in der heutigen Friedenstraße vor dem Tor: der "Todeszug" aus Buchenwald. "Als wir die Schienen überquerten und zurück in die Wagen schauten, bot sich uns das schrecklichste Bild, das ich jemals gesehen hatte", schrieb Leutnant Bill Cowling in einem Brief an seine Familie. "Die Wagen waren voll mit Leichen. Die meisten waren nackt, alle bestanden nur aus Haut und Knochen. Viele hatten Schusslöcher im Hinterkopf."

Am 27. und 28. April war der Todeszug in zwei Teilen in Dachau angekommen. 4480 Häftlinge waren am 7. April unweit des KZ Buchenwald in Waggons gepfercht worden, schreibt der tschechische Historiker und ehemalige Dachau-Häftling Stanislav Zámečník in "Das war Dachau". Eigentlich, gab SS-Obersturmführer und "Transportführer" Hans Erich Merbach später zu Protokoll, sollten sie ins KZ Flossenbürg gebracht werden. Da das jedoch schon von der amerikanischen Armee eingenommen worden war, fuhr der Zug nach Dachau. Statt den ursprünglich vorgesehenen 24 Stunden dauerte die mörderische Fahrt 21 Tage. Nur zweimal bekamen die Häftlinge etwas zu essen. Tausende starben unterwegs an Entkräftung, Hunger und Typhus oder wurden von SS-Männern mit Kolbenschlägen ermordet und erschossen. Viele wurden neben den Gleisen verscharrt oder verbrannt. Ein Zug von Sterbenden und Toten erreichte schließlich Dachau. Wie viele Häftlinge überlebten, ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Nur ungefähr 800 Überlebende lagen zwischen den 2360 Häftlingen, die bereits tot waren, sagt Dirk Riedel, Historiker der KZ-Gedenkstätte Dachau. Wassily Nowak war einer von ihnen. Heute zählt der 90-Jährige zu den letzten Überlebenden, die noch berichten können.

Eigentlich will er seine Geschichte gar nicht mehr erzählen. "Ich habe schon so viele Interviews gegeben", sagt er. Dann beginnt er doch zu sprechen. Mit 16 Jahren wurde er verschleppt, drei Jahre lang war er in Gefangenschaft. Zweimal floh er, doch jedes Mal spürte ihn die Gestapo auf. Er kam ins KZ Groß-Rosen, dann nach Mauthausen, Buchenwald und zuletzt Dachau. Immer wieder kommen dem 90-Jährigen die Tränen, während er erzählt. Dann hält er sein schon ganz zerfranstes Taschentuch fest in den Händen und wischt sich damit über die feuchten Augen. Sein Weg nach Dachau begann am 6. April 1945 im KZ Buchenwald. An diesem Tag kam der Befehl, dass alle Häftlinge herauskommen sollten. "Wir wollten nicht", erzählt Nowak, "wir dachten, dass wir bald befreit würden". Der junge Mann gehörte einer Untergrundgruppe an, die versuchte, Informationen über den Verlauf des Krieges zu sammeln. Sie wussten: Das Kriegsende ist nah. "Doch die SS-Männer kamen mit Motorrädern und Maschinengewehren und trieben uns weg." Wer zu schwach war, wurde sofort erschossen.

Als die Nacht hereinbrach und die Häftlinge den Bahnhof in Weimar erreicht hatten, mussten sie in Kohlewaggons einsteigen. Nowak kann sich erinnern, dass sie über Leipzig und Dresden fuhren. "Wir haben nur ein Brot bekommen", sagt er, "für vier Leute. Wir haben alles sofort aufgegessen, es blieb nichts übrig." Kurz vor der tschechischen Grenze brach Typhus aus. Auch Nowak steckte sich an, bekam hohes Fieber. 41,5 Grad maß ein Arzt später bei ihm. Wer im Fieberwahn schrie, wurde erschossen. Es fällt Nowak schwer, die Tränen zurückzuhalten. Dann spricht er weiter. "Die Nachrichtendienste der Amerikaner wussten von den Zügen mit Häftlingen", sagt er, "immer wieder bombardierten Flugzeuge die Gleise, in der Hoffnung, dass wir entlassen werden. Aber sie wurden einfach immer wieder repariert." In Nammering bei Passau erlebte Nowak, wie mehrere Hunderte Gefangene erschossen wurden. Nach einer endlosen Fahrt kam der Zug in Dachau an, nur wenig später sollte das Lager befreit werden. "Die Waggons waren voller Leichen", erinnert sich Nowak, "und dazwischen lagen die, die noch lebten". Er ist zu schwach, um sich auf den Beinen zu halten. "Wir wurden von den Häftlingen aus Dachau getragen, man legte uns einfach auf den Boden", sagt er. Die Leichen blieben in den Waggons liegen.

Es dauerte noch lange, bis Nowak in seine Heimat zurückkehren konnte. Fast zwei Monate wurde er nach der Befreiung in Dachau medizinisch behandelt. "Sie haben mich mit dem Löffelchen gefüttert, so schwach war ich." Wieder ist der alte Mann den Tränen nahe. Zurück in der Ukraine half er schließlich zwei Jahre lang beim Aufbau mit. Nowak ging zur Eisenbahn und arbeitete bis zu seiner Rente als Lokomotivführer.

Am Sonntag nimmt er gemeinsam mit 138 anderen Überlebenden an der Befreiungsfeier in der KZ-Gedenkstätte teil. Dort wird mit Bundeskanzlerin Angela Merkel zum ersten Mal ein deutscher Regierungschef sprechen. Außerdem werden der belgische Premierminister Charles Michel, niederländische Parlamentarier und mehrere Botschafter erwartet. Auch Alan Lukens, ehemaliger US-Botschafter, der als junger Soldat bei der Befreiung des KZ Dachau dabei war, wird mit neun weiteren Veteranen teilnehmen. Im Mittelpunkt der Feier stehen die Überlebenden - wie Wassily Nowak. Mehrmals hat er schon die Gedenkstätten in Mauthausen und Dachau besucht. Nicht ohne Stolz reicht er Fotos herum, die dort entstanden sind. Eines zeigt ihn auf der "Todestreppe" von Mauthausen, über deren 186 Stufen er pausenlos Steine hoch schleppen musste. Aber die Rückkehr an diese Orte ist für ihn sehr schmerzhaft. Wassily Nowak sagt nur zwei Worte:"Ich weine."

© SZ vom 02.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: