Bogenhausen:Mit den Fingern sehen

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Die Konturen eines Gesichts zu erfühlen, ist nicht einfach. (Foto: Haas)

Bei der Tastführung in der Galerie des Bezirks Oberbayern müssen sich die Besucher auf einen einzigen Sinn verlassen

Von Helena Ott, Bogenhausen

Ob in Kunstausstellungen, Museen oder sogar Aquarien, die "Bitte nicht berühren"-Schilder gehören zum Inventar. Vor allem für Kinder sind sie ein Graus, wo sie doch so gerne mit den Händen begreifen. Es ist also ein ungewohntes Bild, das sich an diesem Nachmittag in der Galerie des Bezirks Oberbayern bietet: Erwachsene stehen mit schwarzen Augenbinden vor vier gleich großen Büsten, mit den Fingerkuppen ertasten sie Hals und Kinn, fahren über den Mund, legen beide Daumen in die Augenhöhlen der Skulptur. "Überhaupt erst einmal zu fühlen, dass es ein Gesicht sein soll, ist schon schwer", sagt ein Mann mit Augenbinde.

Sabine Friedrich tastet routinierter, macht sich ein Bild von der Größe des Kopfes, fühlt jede Kleinigkeit. "Mir kommt er vor wie ein Kind", sagt sie nach wenigen Sekunden über die 40 Zentimeter hohe Büste einer jungen Frau, die tatsächlich sehr feine Konturen hat. Sabine Friedrich ist seit 25 Jahren blind. Die 70-Jährige rückt ein Stück weiter zur nächsten Büste. Sie nimmt sich Zeit. Ohne Tipps von anderen Besuchern hat sie entdeckt, dass sich die Skulpturen sehr ähnlich sind, mit dem Unterschied, dass der Frauenkopf von Büste zu Büste seine Blickrichtung ändert. Erst beim letzten Exponat schaut er hoffnungsvoll und selbstbewusst nach oben.

Dörthe Bäumer, die die Skulpturen geschaffen hat, beobachtet genau: "Es ist sehr spannend, die Bewegungsverläufe, mit denen die Besucher die Exponate erfühlen, zu verfolgen". Aber die Tastführung sei auch eine Grenzerfahrung für das Material, so die Künstlerin. Was bei bloßem Hinsehen wie Stein aussieht, ist in Wirklichkeit Papier. "Wir bieten zu allen unseren Ausstellungen eine Tastführung an, es ist aber die erste mit Papierexponaten" sagt Dorothee Mammel, sie betreut das Projekt in der Galerie des Bezirks Oberbayern.

Die Tastführung geht noch weiter. Weg von den Skulpturen: An einem Tisch ertasten die Besucher flache Bilder aus je zwei Schichten dickerem Papier. Es sind die Scherenschnitte der 20-jährigen Lotte Lehmann. Jede einzelne der vielen Schwünge und Windungen fährt Jasmin Kampani, eine gehörlose Besucherin, ab. Die Mutter der Künstlerin erzählt, dass ihre Tochter die Kunstwerke mit einfacher Bastelschere ausschneidet. Eine Diskussion beginnt: "Ich glaube nicht, dass diese filigranen Formen mit einer Schere gemacht sind", übersetzt die Gebärdendolmetscherin die Zweifel einer anderen Gehörlosen, die auf ein Skalpell tippt.

Auch der Mann von Sabine Friedrich erfühlt nun mit Augenbinde die Bilder. Als er die Maske abnimmt, begutachtet er verwundert, was er eben ertastet hat. "Man spürt zwar die Details, aber es ist sehr schwer, sich die Form im Ganzen vorzustellen." Wieder überrascht seine blinde Frau: "Es ist eine symmetrische Form", sagt sie nach kurzer Prüfung der Papierkanten. Für die Sehenden ist es eine Herausforderung, sich auf einen einzigen Sinn zu verlassen. Sabine Friedrich dagegen beschreibt es als "ausgesprochen lustvolle Erfahrung".

© SZ vom 15.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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