Asylbewerber fürchten Abschiebung:Wer rettet den Lebensretter?

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Esmat Ahrar (rechts) und Bruder Ali wollen bleiben. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Esmat Ahrar hat einen Buben vor dem Ertrinken bewahrt. Dem angehenden Bademeister droht die Abschiebung

Von Bernhard Lohr, Haar

Als Held sieht sich Esmat Ahrar nicht. Er hat nur seinen Job gemacht. Am Freitag vor zwei Wochen hatte der 20-Jährige im Haarer Freibad Aufsicht am Sprungturm, als ein zehnjähriger Bub vom Dreimeterbrett sprang und danach bewusstlos im Wasser trieb. Der angehende Bademeister ist ins Becken gesprungen und hat den Buben herausgezogen. Ohne Esmat würde der Junge vielleicht nicht mehr leben. Er musste reanimiert werden und wurde ins Krankenhaus geflogen. Das hat er mittlerweile verlassen. Es geht ihm gut, er wird keine bleibenden Schäden behalten.

Vielleicht bekommt Esmat Ahrar für seine Tat demnächst eine Urkunde. So wie sein zwei Jahre älterer Bruder Ali, der in Haar dieselbe Ausbildung macht und schon drei Menschen vor dem Ertrinken gerettet hat. Die beiden haben einen Job, sprechen fließend Deutsch, haben sich als Lebensretter bewährt - und leben doch mit der Angst, abgeschoben zu werden - in ihre alte Heimat Afghanistan.

Es ist viereinhalb Jahre her, dass die Familie Ahrar Kabul hinter sich gelassen hat. Die Taliban hatten den Vater bedrängt, sich ihnen anzuschließen, und als dieser sich weigerte, brachten sie den ältesten Sohn der Familie um. Safi Ahrar, 48, seine Frau Leila, 47, und die drei verbliebenen Söhne flohen nach Deutschland. Mittlerweile leben die Ahrars in Haar. Esmat ist in dieser Woche auf Blockunterricht an der Berufsschule in Lindau. Er versucht, sich auf die Ausbildung zu konzentrieren und nicht über die Abschiebung nachzudenken. Am Handy erzählt er von dem Schock, den er bei der Rettungsaktion vor zwei Wochen selbst erlebt habe. "Das ist bisschen schrecklich." In der Wohnung am Jagdfeld in Haar sitzen Vater Safi, Mutter Leila, Ali und sein jüngster Bruder Mujib, 11, beisammen. Später kommt Alis Freundin Anna Maria dazu.

Vor allem Ali erzählt. Er spricht leise. Er könnte ein normaler 22-Jähriger sein, der entspannt seiner Zukunft entgegensieht. Doch die Realität ist anders. Sein Asylantrag wurde wie beim Rest der Familie abgelehnt, weil einem Entscheider im Bundesamt die Fluchtgeschichte nicht plausibel erschien. Nun müssen Gerichte entscheiden. Kommenden Freitag hat Ali Anhörungstermin vor dem Verwaltungsgericht München. Weil er bei der Ankunft der Familie in Deutschland schon 18 war, wird sein Asylverfahren getrennt geführt.

Ali und Esmat wollen eine Perspektive, Sicherheit, ihr Leben in die Hand nehmen dürfen. "Wir brauchen kein Geld vom Staat", sagt Ali, "wir brauchen gar nichts, wir wollen nur arbeiten können". Ein Versuch, mit Freundin Anna Maria eine kleine Wohnung in Trudering zu beziehen, scheiterte. Jetzt ist er zurück bei seinen Eltern und den Brüdern. Fünf Personen leben in der Zwei-Zimmer-Wohnung, wenn Alis Freundin da ist, sind sie sechs.

Die Schwierigkeiten rühren daher, dass der Aufenthaltsstatus der ganzen Familie ungesichert ist, wie bei vielen Flüchtlingen aus Afghanistan, deren Chancen gesunken sind, Asyl oder auch nur subsidiären Schutz gewährt zu bekommen. Dem Bundesamt für Migration zufolge wurden 2016 noch 55,8 Prozent der Anträge anerkannt, im ersten Halbjahr 2017 waren es nur noch 44,1 Prozent. Zugleich weist die UN darauf hin, dass die Mehrheit der Afghanen unter Krieg und Extremismus leiden. Zwischen Januar und Juni sind der Organisation zufolge in Afghanistan 1662 Zivilisten getötet und 3581 verletzt worden. Vater Safi Ahrar und seine Frau haben seit ihrer Kindheit nur Krieg erlebt. "Es war unsere Aufgabe, unsere Kinder zu schützen und nach Deutschland zu bringen", sagt der Vater.

Die Familie Ahrar hat viel getan, um sich in Haar zu integrieren. Die ältesten Söhne Ali und Esmat bewarben sich um eine Ausbildung beim Bäderbetrieb. Die Gemeinde war froh, denn sie hatte vergeblich Lehrlinge gesucht. Ali nahm die Lehre als erster auf, Esmat folgte im Jahr darauf. Vater Salif und Mutter Leila besuchten Integrationskurse.

Salif Ahrar hat an der Uni in Kabul Wirtschaft studiert und arbeitete einst als Buchhalter. Hier fand er einen Job bei einer Sicherheitsfirma, die ihn aber nach zehn Monaten entließ, weil er keinen entsprechenden Deutschnachweis hatte. "Ich habe dann privat einen Deutschkurs genommen", sagt er. Mutter Leila heuerte als Hilfskraft am Schwabinger Klinikum an. Zwischenzeitlich war die Arbeitserlaubnis ausgelaufen. Erst dieser Tage fing sie wieder in Teilzeit an, nachdem sich ihr Chef beim Landratsamt für sie stark gemacht hatte.

Der Jüngste in der Familie, der elfjährige Mujib, besucht vom nächsten Schuljahr an das Ernst-Mach-Gymnasium. "Wir haben angefangen zu leben", sagt Ali, man könne sie nicht wegschicken. Mutter Leila sagt: "Man ist nicht so frei. Es gibt keine Angst mehr zu sterben, aber Angst, abgeschoben zu werden."

Lange haben Flüchtlingshelfer wie Traudl Vater in Haar, die mit der Familie Ahrar viel durchgestanden hat, sich um Deutschkurse und praktische Hilfe bemüht. Mittlerweile begleiten sie ihre Schützlinge vor Gericht. "Dass hinter jeder Zahl ein Schicksal steht, mit allem Drum und Dran, das ist wichtig", sagt sie. "Man kann nicht einfach sagen weg, weg, weg." Das gehe "an die Nieren", sagt sie.

Die Familie Ahrar bekommt Hilfe, von vielen Seiten. Sie ist in Haar bekannt, viele Freundschaften sind entstanden. Ali und seinen Bruder Esmat kennt im Freibad jeder. Als ein Freund von Ali wegen der Ablehnung seines Asylantrags eine Online-Petition startete, unterschrieben innerhalb kurzer Zeit 2700 Menschen. Ali und seine Freundin Anna Maria Estermann sind seit Jahren ein Paar. Sie fühle sich bei den Ahrars "wie zu Hause", sagt Anna Maria, die zu Alis Mutter schon auch mal "Mama" sagt. Anna Marias gesamte Familie ist eng mit den Ahrars befreundet. Mutter Silvia hat Landrat Christoph Göbel und Landtagsabgeordnete angeschrieben und sich für die Ahrars eingesetzt.

Wenn kommenden Freitag in Alis Asylverfahren ein wichtiger Anhörungstermin vor dem Verwaltungsgericht München ist, werden das viele in ihrem Bekanntenkreis bangend verfolgen. Auch die Familie des zehnjährigen Buben, den Esmat aus dem Wasser gezogen hat. Sie waren schon im Freibad, um Danke zu sagen. Sie wollen sich, wie es heißt, ebenfalls für die Ahrars einsetzen.

© SZ vom 22.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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