Abstimmung:"Historisch interessanter wäre vielleicht der Austritt"

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Die meisten Briten in München sind gegen den Brexit. (Foto: Jörg Carstensen/dpa)
  • Ein Brexit könnte auch in München erhebliche Folgen haben - für die Briten, die hier leben und für Unternehmen.
  • Die meisten Briten in der Landeshauptstadt sind gegen die Abspaltung.

Von Wolfgang Görl

Email von Sir Peter Jonas: "Ich bin noch immer Britischer Staatsbürger, aber streng genommen kein Münchner, aber doch ein Zürcher (d. h. Schweizer), aber ich ruf Sie an in den nächsten Minuten, weil ich für 3 Stunden in München bin auf dem Weg nach Amsterdam! Toodle pip."

Eine kurze Mitteilung, und doch ist es Sir Peter gelungen, darin vier Länder unterzubringen - nicht, um zu protzen, sondern ganz beiläufig, wie es sich für einen Mann von Welt gehört. Ist ja auch keine Sache, die des Aufhebens wert wäre: Dies ist Europa, der alte Kontinent, auf dem die Grenzen durchlässig sind, nicht wahr? Aber sind sie das noch? Nicht überall und nicht für jeden. Und nun stimmen die Briten darüber ab, ob sie in der Europäischen Union bleiben oder die Verbindung zu Brüssel kappen wollen.

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Was, wenn sie wirklich bye bye sagen würden? Der Brexit wäre "kollektiver Selbstmord", meint Sir Peter Jonas, geboren in London, von 1993 bis 2006 Intendant der Bayerischen Staatsoper. Mittlerweile lebt er in Zürich, und doch zieht es ihn immer wieder nach München, zu seiner Frau, der Konzertmeisterin Barbara Burgdorf. Zum britischen Referendum hat er noch vieles anzumerken, aber davon später. Zunächst - Ladies first! - hat Sue Bollans das Wort.

Sue Bollans stammt aus England, doch vor mehr als 40 Jahren hat sie die Insel verlassen, um in München zu leben, weil es ihr hier so gut gefällt. Sie arbeitet als Dolmetscherin und engagiert sich nebenher, obwohl sie keine Schottin ist, bei der "Munich Scottish Association", einem Verein, der traditionelle schottische Tänze pflegt. Bei der Abstimmung über den Verbleib in der EU darf sie nicht mitmachen. Briten, die mehr als 15 Jahre außerhalb des Vereinigten Königreichs leben, sind vom Referendum ausgeschlossen. "Ich finde das nicht gerecht", sagt Bollans, die wie viele im Ausland lebende Briten eine Unterschriftenkampagne gegen die 15-Jahre-Regelung unterstützt hat. Geholfen hat es nichts.

"Ich bin natürlich auch gegen den Brexit", sagt Bollans. So, vermutet sie, dächten die meisten ihrer Landsleute, die auf dem Kontinent lebten. Wie groß die Verunsicherung bei manchen ist, zeigt die deutlich gestiegene Zahl von Einbürgerungen. In den ersten Monaten dieses Jahres waren es 20 Münchner Briten, die die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen haben, so viele wie im gesamten Vorjahr. Weitere 29 Anträge sind derzeit noch in Bearbeitung.

Die Verbindungen zu Europa bleiben stark

Diejenigen aber, die für den Austritt seien, hätten die Vorstellung, "sobald sie die EU verlassen, werden sie unabhängig". Ein Irrtum, glaubt Bollans. "Die Verbindungen zu Europa werden genauso stark bleiben", und überhaupt würde der Brexit wirtschaftlich nur schaden. Leider aber hätten die Engländer seit je einen Hang zur Isolation, und diesen hätten etwa die Zeitungen des erzkonservativen Verlegers Rupert Murdoch befeuert. "Es ist generell ein Fehler, dass man ein Referendum macht", sagt sie. "Wir sind zu wenig informiert, um über so ein komplexes Thema zu entscheiden."

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Unter einem EU-Austritt würde vor allem Großbritannien selbst leiden, heißt es. Das Land könnte massiv an Wirtschaftskraft einbüßen und London seinen Status als europäisches Finanzzentrum verlieren.

Rund 6000 Briten leben in München, wo sie jedoch weitaus weniger Wind um ihr Land machen als etwa die Iren, die es am St. Patrick's Day zur allgemeinen Freude ordentlich krachen lassen. Kein Engländer, aber auch sonst kein Mensch dürfte aber derart vertraut mit der bayerischen Mundart sein wie der Sprachwissenschaftler Anthony Rowley, der als Professor für Germanistik an der Ludwig-Maximilians-Universität lehrt.

Mit dem Brexit käme die Unruhe

Rowley, dessen Heimat Yorkshire ist, leitet die Kommission für Mundartforschung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, er ist seit bald 30 Jahren damit beschäftigt, gemeinsam mit vielen Helfern ein umfassendes bayerisches Wörterbuch zusammenzustellen. Auch Rowley ist einer, der nicht abstimmen darf, und auf die Frage nach dem Brexit sagt er erst einmal "Uff". Nach einer kleine Pause folgt das bemerkenswert defensiv formulierte Bekenntnis: "Ich hätte nichts dagegen, wenn Großbritannien in der EU bleibt."

Und er würde, dürfte er nur, für den Verbleib stimmen - aber: "Historisch interessanter wäre vielleicht der Austritt." Er würde Europa womöglich zwingen, "sich genauer zu überlegen, was es eigentlich will". Richtig behaglich ist es Rowley bei dieser Vorstellung dann doch nicht: "Ein Austritt brächte Unruhe in Europa. Ich bin inzwischen so alt, dass ich ein ruhiges Leben bevorzuge."

Vor vier Wochen war der Dialektspezialist mal wieder in seiner Heimat, in Yorkshire im Norden Englands. Dort, erzählt Rowley, hat das Referendum kaum jemanden interessiert. Fünf, sechs Tage weilte er auf der Insel, und keine Sekunde lang kam der mögliche Brexit in der Familie zur Sprache. "Wir haben nicht darüber geredet, ich weiß nicht einmal, wie meine Schwester und meine Mutter abstimmen würden."

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Ähnlich wie Rowley betrachtet auch Mike Gray die gelegentliche Widerborstigkeit der Briten als einen Gewinn für die EU. "Wir waren immer ein interner Störfaktor, der angesprochen hat, was gesagt werden musste. Wenn Großbritannien weg wäre, wäre das auch für die EU problematisch." Gray arbeitet bei BMW, auch er ist länger als 15 Jahre in Deutschland. Eigentlich, sagt er, funktioniere es ganz gut, sein Land sollte in der EU bleiben. "Wir haben auch viele Vorteile gehabt." Dies jetzt alles über den Haufen zu werfen, "wäre wirklich nicht sinnvoll".

Stuart Allan lebt seit 27 Jahren in Deutschland, er ist Schotte und arbeitet in Germering als Golflehrer. "Ich fürchte den Austritt schon", sagt er. "Der Brexit wäre fatal." Warum? Weil sich die Zeiten geändert haben. Es ist nicht mehr wie früher. Ja, früher, da war Großbritannien wirklich groß, heute hingegen "ist es ein kleines Land". Unausgesprochen schwingt da die Sorge mit, das kleine Land könnte bei einem Alleingang durch die globalisierte Wirtschaftswelt auf den Holzweg geraten.

Die Schotten, glaubt der schottische Meistergolfer, sind da klüger: "Die meisten sind gegen den Brexit, alle in meiner Familie und im Bekanntenkreis sind für den Verbleib in der EU." Und schließlich ruft Stuart Allan noch einen berühmten Engländer als Kronzeugen gegen die Isolationspolitik auf: "Schon Churchill hat gesagt, er träume von einem vereinten Europa."

Kurz vor der Weiterreise nach Amsterdam nimmt sich Sir Peter Jonas noch Zeit, einige Gedanken über das Referendum preiszugeben. Es ist ein düsteres Bild, das er zeichnet, und noch finsterer wären die Aussichten, käme der Brexit. "Es passiert manchmal in der menschlichen Geschichte, dass sich die Leute wie Lemminge verhalten. Wie die Lemminge rennen sie auf eine gefährliche Klippe, und obwohl sie in den sicheren Tod springen, stoppen sie nicht." So in etwa läuft es derzeit im Vereinigten Königreich.

Es gäbe gute Argumente für einen Austritt

Dabei, das räumt Jonas ein, gebe es auch gute Argumente für den Austritt . Beispielsweise könnte er die EU zwingen, eine bessere Politik zu verfolgen. "Aber das Problem ist, dass die ganze Debatte nicht auf der Basis substanzieller Argumente geführt wird." Dazu tragen nicht zuletzt Nigel Farage, der "flapsige Volkstribun" der europafeindlichen Ukip, sowie Boris Johnson bei, der sich zum Brexit-Befürworter gewandelt habe, weil er Premierminister werden wolle. "Meine Meinung ist, dass Boris nur eine sympathischere und ein bisschen intelligentere Ausgabe von Donald Trump ist - und genau so zynisch."

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Was würde passieren, verabschiedeten sich die Briten aus der EU? "Ich bin kein Orakel", sagt Sir Peter. "Aber eines ist sicher: Die Welt war nie so gefährlich wie heute." Wie? Gefährlicher als 1914 und 1939? "Natürlich war der Erste Weltkrieg eine Katastrophe. Natürlich waren die Nazizeit und der Zweite Weltkrieg mehr als eine Katastrophe, ein kollektiver Wahnsinn mit Mord und Völkermord. Aber heutzutage haben sehr viele Leute, sehr viele Regierungen und sehr viele Länder Massenvernichtungswaffen."

Der mögliche Brexit sei Teil einer "großen Malaise", die noch zahllose andere Symptome habe: "Trump, Boris, die Desintegration der EU, Kim Jong Un, der IS - muss ich noch mehr aufzählen?" Der Brexit, so Jonas' Sorge, würde die globale Krise verschärfen. Besser, Großbritannien bliebe im Club, zumal es einiges zu bieten habe: "Unsere Werte waren immer Fairness, Toleranz und Vielfalt. Wenn man diese hinzufügt zu den europäischen Tugenden von Kultur und Verständigung, hat man eine bessere Welt in diesen sehr gefährlichen Zeiten."

© SZ vom 20.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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